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AZRAEL

AZRAEL

Titel: AZRAEL Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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gekommen war: die des Zwölfjährigen, der seine Mutter im Krankenhaus besuchte, in dem sie seit einigen Tagen lag und aus dem sie in wenigen Tagen entlassen werden würde, wegen einer - wie sie es dezent aus- drückte – Frauengeschichte. Die Ärzte hatten es ihm damals erklärt. Ihr Bewußtsein war in einer temporären Schleife gefangen, die drei oder vier Tage zurückreichte und dann immer wieder aufs neue begann. Sie konnte sich nie erinnern, worüber sie bei seinem letzten Besuch gesprochen hatten. Oder wie lange er hier war. Sie konnte sich nicht wirklich erinnern, warum sie hier war, und erst recht nicht, weshalb man sie eingeliefert hatte. Sie hätte all dies gekonnt, aber sie wollte es nicht. Etwas in ihr wollte es nicht. Und keine Macht der Welt, kein ärztliches Können und kein Medikament waren bisher stark genug gewesen, diese Weigerung zu durchbrechen. Manchmal fragte sich Mark, ob sie überhaupt das Recht hatten, es zu tun. Ihr Geist hatte sich in ein winziges Schneckenhaus zurückgezogen, in dem er sicher und behütet war – und mit welchem Recht maßten sie sich eigentlich an, ihn dazu zu zwingen, sich den Schrecken zu stellen, vor denen er geflohen war?
    Jetzt jedenfalls versuchte er es nicht mehr. Er spielte seine Rolle perfekt, erzählte von einer Schule, auf der er nie gewesen war, von Klassenkameraden, die es nicht gab, und Lehrern, deren Namen er sich im gleichen Moment ausdachte, in dem er sie nannte. Er erzählte von einem Zuhause, das längst nicht mehr existierte, und von einer Familie, die es vielleicht nie gegeben hatte. Schließlich begann seine Mutter unruhig zu werden. Auch das gehörte zu ihrer Krankheit. Sie konnte sich kaum länger als zehn oder fünfzehn Minuten auf eine bestimmte Tätigkeit oder ein Gespräch konzentrieren, und er wollte sich selbst den Moment ersparen, in dem sie begann, ihre Fragen vom Beginn des Gespräches zu wiederholen. Er u marmte sie noch einmal zum Abschied, dann drehte er sich mit einem Ruck herum, stürmte regelrecht aus dem Zimmer und die ersten Schritte den Flur hinunter. Erst auf halbem Wege zum Aufzug wurde er wieder langsamer, und auch sein Atem beruhigte sich.
    Er blieb einen Moment stehen, um sich vollends zu beruhigen, ging aber dann doch schnell weiter und steuerte den Aufzug an. In wenigen Augenblicken schon würde die Schwester oder auch einer der Pfleger kommen, um seine Mutter abzuholen, und er wollte ihr nicht noch einmal begegnen: Nicht jetzt. Er hätte es nicht ertragen, wenn sie ihn voller Überraschung begrüßt und in die Arme geschlossen hätte, als wäre er seit Tagen nicht mehr hier gewesen. Mark gestand sich
    jetzt ein, daß es ein Fehler gewesen war, überhaupt herzukommen.
    Der Aufzug ließ auf sich warten. Das kleine Licht neben der Tür blieb eine ganze Weile auf Rot, was bedeutete, daß die Kabine irgendwo unter oder über ihm stillstand, und er war schon fast so weit, aufzugeben und die Treppe nehmen zu wollen, als die Farbe endlich von Rot zu Grün wechselte und er hören konnte, wie eine Etage unter ihm die Lifttüren zuglitten. Einen Moment später setzte sich die Kabine in Bewegung. Mark trat ganz automatisch einen Schritt zurück, als sie wieder anhielt und die Türhälften sich vor ihm teilten, aber der Lift war leer, niemand trat heraus, dem er hätte Platz machen müssen. Mit einem schnellen Schritt trat er in den Lift hinein, sah hoch - und hätte um ein Haar laut aufgeschrien.
    Er war da.
    Die Aufzugkabine bestand ganz aus mattiertem Chrom, auf dem sich seine eigene Gestalt als verzerrter Schemen widerspiegelte - aber er war nicht allein. Hinter seinem Spiegelbild war ein zweites, ein wehender, weißer Schatten ohne Gesicht, der lautlos näher kam.
    Er war da.
    Der Engel aus seinem Traum.
    Er hatte die Grenzen zur Wirklichkeit durchbrochen und war jetzt hier, um ihn zu holen.
    Mark fuhr mit einer entsetzten Bewegung herum.
    Er war tatsächlich nicht mehr allein, doch hinter ihm stand keine Schimäre, sondern die Schwester vom Empfang. Sie mußte gelaufen sein, um den Aufzug noch zu erwischen, denn sie war ein bißchen außer Atem, und irgendwie wirkte sie auch erschrocken, ihn zu sehen. Vielleicht nicht einmal ihn. Vielleicht war da etwas in seinem Gesicht, das sie erschreckte. Mark hatte den Schrei, der aus seiner Kehle entweichen wollte, gerade noch unterdrücken können, aber sein Herz raste jetzt wie wild, und er war nicht sicher, ob er sein Gesicht weit genug unter Kontrolle hatte, um das Entsetzen zu

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