AZRAEL
zustand.
»Beherrschen Sie sich«, sagte Sendig noch einmal - und er sagte es nicht nur überraschend sanft, sondern fügte nach einem kaum merklichen Zögern etwas noch viel Überraschenderes hinzu - zumindest für jeden, der ihn kannte: »Wenigstens so lange, wie wir nicht alleine sind. Sie tragen Uniform.«
Er atmete hörbar ein, ehe er sich mit einem sichtlichen Ruck vom Anblick des Toten losriß und herumdrehte. »Kommen ie, Bremer. Sehen wir uns die Wohnung dieses Herrn Mogrod an.«
War es schon seine bisher ungewohnt großmütige Stimmung gewesen, die Bremer alarmiert hatte, so nun spätestens die Art, auf die Sendig Mogrods Namen aussprach. Es war nicht irgendein Name. Er bedeutete etwas für Sendig, und ganz offensichtlich erwartete er, daß er das für ihn ebenso tat.
Während er Sendig über die abgesperrte Straße zum Haus hin folgte, kramte er angestrengt in seinen Erinnerungen. Aber da war nichts. Er hatte sich den Toten sehr genau angesehen, und anders als gestern abend gab es hier nichts, was er hätte wiedererkennen können. So war er sehr sicher, diesen Mann noch nie im Leben gesehen zu haben, und er hatte auch seinen Namen noch nie gehört; wenigstens nicht in einem Zusammenhang, der des Erinnerns wert gewesen wäre. Und was diese Gegend hier betraf ...
Bremer warf einen raschen Blick in die Runde. Die Straße gehörte nicht zu seinem Revier, und schon gar nicht zu den Gegenden, in denen er sich aufzuhalten pflegte, wenn er nicht im Dienst war. Die Ähnlichkeit zwischen Löbachs und Mogrods Tod war nicht total - die Regie mochte die gleiche sein, aber die Kulissen waren so verschieden, wie sie nur sein konnten. Das Haus, aus dessen Fenster sich Mogrod gestürzt hatte, als schäbig zu bezeichnen, wäre noch geschmeichelt gewesen. Es war eine bessere Ruine - nein, keine bessere, es war eine Ruine. Falls es jemals einen Anstrich erlebt hatte, war er längst zusammen mit dem größten Teil des Putzes in Staub aufgegangen; unter dem ungleichmäßigen Lochmuster kam grauer Ziegelstein zum Vorschein, in dem der Schwamm nistete. Die Fenster begannen herauszufaulen, und zumindest im Erdgeschoß mußten wohl einige Wohnungen leerstehen; es sei denn, ihre Bewohner liebten es, ohne Scheiben zu leben. Als sie das Haus betraten, schlug ihnen ein muffig-feuchter Geruch entgegen, der ihnen im ersten Augenblick fast den Atem nahm.
»Hübsch, nicht?« fragte Sendig.
»Ja«, antwortete Bremer. »Wie gut, daß ich nicht bei der Baupolizei bin. Wäre ich es, hätte ich jetzt für einen Monat zusätzliche Arbeit.«
»Mindestens«, pflichtete ihm Sendig bei. »Das sieht nicht gerade so aus wie das Haus, in dem Löbach gewohnt hat, finden Sie nicht?«
»Wieso?« fragte Bremer. Er sah Sendig scharf an, aber sein Gesicht verriet nichts, außer einem Ausdruck leiser Konzentration, den ihm die Anstrengung abverlangen mochte, die knarrenden Holzstufen hinaufzueilen. Selbst Bremer spürte nach der zurückliegenden Nacht jede einzelne Stufe, die sie hinaufgingen, und immerhin war Sendig gute zehn Jahre äl ter als er und hatte seit gut zwanzig Jahren einen Schreibtischjob.
»Weil es eigentlich so sein sollte«, antwortete Sendig mit bedeutsamer Verzögerung.
»Und warum?«
Sie hatten den ersten Stock erreicht. Vor ihnen lag ein kurzer, schmuddeliger Flur mit insgesamt vier Türen. Alle standen offen, und ein gutes Dutzend Gesichter starrte sie neugierig an - jedenfalls so lange, bis Bremer weit genug ins Licht trat, daß man seine grüne Uniformjacke erkennen konnte. Dann verschwanden zwei oder drei der gaffenden Gestalten hastig. Eine Tür wurde mit einem Knall zugeschlagen, und ein Viertel des Lichtes verschwand. Bremer sah automatisch hoch und erkannte, daß es keine Flurbeleuchtung gab – wo die Lampe hängen sollte, kräuselten sich nur zwei abgerissene Drahtenden aus der Decke, Was für eine fürchterliche Bruchbude!
»Was haben Löbach und dieser Mogrod miteinander zu tun?« fragte er, nachdem sie das Ende des Korridors erreicht hatten und die Treppe zum zweiten Stockwerk in Angriff nahmen. In welcher Etage hatte Mogrod gewohnt? Der vierten oder fünften?
»Nun, zum einen, daß sie tot sind«, antwortete Sendig kurzatmig. »Der Name sagt Ihnen wirklich nichts?«
Bremer schüttelte den Kopf und sparte sich den Atem, laut zu antworten.
»Schade«, sagte Sendig. »Ich hatte gehofft, daß Sie sich erinnern. Aber möglicherweise haben Sie ihn damals ja gar nicht kennengelernt.«
» Wen? « fragte Bremer
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