AZRAEL
sich nicht selbst verletzte.
»Marianne!« sagte er. »Können Sie mich verstehen? Was ist mit Ihnen? Sind Sie in Ordnung?«
Natürlich war sie es nicht. Sie hatte jetzt zwar die Augen geöffnet, schien ihn aber im ersten Moment gar nicht wahrzunehmen; zumindest war in ihrem Blick kein Erkennen. Mark sah, daß die linke Seite ihres Gesichtes bereits anzuschwellen begann.
»Es tut mir so leid«, murmelte er. »Bitte, da... das wollte ich nicht. Ich wußte nicht - «
»Was?« Der schneidende Ton war wieder da, und diesmal war er nicht gespielt. Mark sah nur flüchtig auf, aber schon dieser kurze Blick ins Gesicht seines Vaters reichte, ihn alles wieder streichen zu lassen, was er gerade über ihn gedacht hatte. Möglicherweise war seine Härte ja tatsächlich nur aufgesetzt - aber wenn, dann so perfekt, daß es keinen Unterschied machte.
»Was... was ist passiert?« murmelte Marianne. Sie versuchte sich aufzusetzen, und Mark gewann einige kostbare Sekunden damit, ihr dabei zu helfen und sie zu stützen.
»Es tut mir leid«, sagte er noch einmal. »Ich wollte das nicht, Marianne. Ich glaube, ich...«
» Ich glaube«, unterbrach ihn sein Vater, »daß du uns eine Menge zu erklären hast, mein lieber Junge. Warst du das?«
»Er hat es nicht absichtlich getan«, sagte Marianne leise. »Bitte, Herr Sillmann - regen Sie sich nicht auf. Es war ein Unfall. Mark kann nichts dafür.«
Mark verspürte ein kurzes, heftiges Aufwallen von Dankbarkeit. Marianne war noch immer benommen. Selbst durch den dicken Stoff ihres Kleides hindurch konnte er spüren, daß sie am ganzen Leib zitterte, und mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit wußte sie gar nicht, was passiert war. Trotzdem versuchte sie ihn in Schutz zu nehmen. Aber dieser Gedanke weckte auch seinen Trotz - und den Zorn auf seinen Vater, den er nicht umsonst monatelang sorgsam kultiviert hatte. Plötzlich begriff er wieder, daß es einen Grund dafür gab.
»Doch, ich kann etwas dafür«, sagte er. »Es war meine Schuld. Aber darüber reden wir später. Jetzt legen Sie sich erst einmal aufs Bett, und ich rufe Ihnen einen Arzt.«
»Nein!« Marianne klang fast entsetzt. »Keinen Arzt. Mir fehlt nichts.«
»Das zu beurteilen, überlassen Sie bitte Doktor Petri«, sagte Marks Vater. »Mark hat vollkommen recht. Wir rufen einen Arzt und klären hinterher, was überhaupt passiert ist.«
Das klang vernünftig - aber zugleich auch nicht besonders überzeugend. Mark mußte seinen Vater nicht einmal ansehen, um zu spüren, daß diese Worte nur rhetorisch gemeint waren. Vermutlich, dachte er wütend, arbeitete es hinter der Stirn seines Vaters schon wieder auf die gewohnte Art: Der Arzt würde Fragen stellen, und selbst wenn nicht, würde er sich seinen Teil denken. Die Leute könnten reden. Gut.
Mit einer fast zornigen Bewegung half er Marianne, sich auf das Bett zu legen, dann richtete er sich auf und deutete zur Tür. »Ich ruf jetzt den Arzt an. Und Sie rühren sich nicht, klar?«
»Bitte nicht«, sagte Marianne. »Mir fehlt nichts. Ein paar Minuten Ruhe und ein kalter Umschlag, und alles ist wieder in Ordnung.«
Mark machte sich nicht einmal die Mühe, zu antworten. Er sah sie nur an. Ihr linkes Auge schwoll so schnell zu, daß man dabei zusehen konnte. In spätestens einer Stunde würde sie Mühe haben, zu reden. Wortlos drehte er sich um, verließ das Zimmer und ging zum Telefon in der Diele, um den Arzt an zurufen. Er hätte es ebensogut vom Anschluß in seinem Zimmer aus tun können, aber das hätte bedeutet, länger in der Nähe seines Vaters zu bleiben, und aus irgendeinem Grund ertrug er den Gedanken im Moment einfach nicht. Es gab überhaupt keinen vernünftigen Anlaß dazu, aber in diesem Augenblick machte er nicht sich, sondern ihn für alles verantwortlich, was geschehen war. Dies war sein Haus, und es war der böse Geist seines Vaters, der es beherrschte.
Er fand die Nummer des Arztes auf der ersten Seite im Telefonbuch, aber er zögerte plötzlich, sie zu wählen. Er hatte nur flüchtige Erinnerungen an Dr. Petri, einen ältlichen, auf den ersten Blick netten Mann, der beinahe ebenso lange zu diesem Haushalt gehörte wie Marianne und sehr viel länger als er selbst. Mark war als Kind selten krank gewesen und hatte somit wenig Kontakt mit ihm gehabt. Trotzdem hatte er keine guten Erinnerungen an ihn. Dr. Petri war der Mann, der seine Mutter in die Klinik eingewiesen hatte.
Aber das spielte im Moment keine Rolle. Er war ein sehr guter Arzt, und das allein
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