AZRAEL
zählte. Außerdem würde er wahrscheinlich sehr schnell hier sein. Seine Praxis befand sich nur zwei Straßen entfernt. Mark wählte seine Nummer, wartete ungeduldig, bis sich die Sprechstundenhilfe meldete, und bat mit knappen Worten um einen Besuch. Wieder ein winziges Detail, das zeigte, welchen Einfluß sein Vater besaß: Die junge Frauenstimme am Telefon fragte nicht, was geschehen war, sondern antwortete nur, daß Dr. Petri in spätestens zehn Minuten kommen würde. Marks Zorn auf seinen Vater stieg.
Aus diesem Grund ging er auch nicht in sein Zimmer zurück, sondern wartete in der Halle, bis der Arzt kam – was tatsächlich nicht einmal zehn Minuten dauerte. Petri schien alles stehen- und liegengelassen zu haben, um zu seinem wichtigsten Patienten zu eilen.
Auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck maßloser Überraschung, als er Mark erkannte, aber gleich darauf auch ein Lächeln, das so ehrlich war, daß Mark sich seiner eigenen Gedanken von vorhin fast schämte. Er begegnete in letzter Zeit sehr selten Menschen, die sich freuten, ihn zu sehen. Zu selten, als daß er es sich leisten konnte, ungerecht zu sein.
»Mark!« sagte Petri. »Sie sind zu Hause? Das ist ja eine Überraschung. Sind denn schon wieder Ferien?«
Mark trat zurück und öffnete in der gleichen Bewegung weiter die Tür. »Nein«, antwortete er. »Ich bin nur... zu einem kurzen Besuch.«
»Das ist schön«, sagte Petri und trat ein. Mark hatte ihn als alten, sehr schlanken Mann in Erinnerung, aber in beiden Punkten hatte er sich getäuscht Er war nicht annähernd so alt, wie er geglaubt hatte, dafür aber so dürr, daß selbst der teure Maßanzug, den er trug, um seine Gestalt zu schlottern schien. Die Arzttasche in seiner rechten Hand schien viel zu schwer für einen Mann seiner Statur.
»Wie lang haben wir uns nicht mehr gesehen? Drei Jahre? Vier?«
»So ungefähr«, sagte Mark. Er war ein bißchen verlegen. Natürlich konnte Petri nicht wissen, was er über ihn gedacht hatte, aber er wußte es, und das allein reichte, ihn sich unwohl fühlen zu lassen. Er hatte plötzlich das Bedürfnis, sich bei Petri zu entschuldigen.
»Wie die Zeit doch vergeht«, murmelte Petri. Plötzlich erschien ein Ausdruck leiser Sorge auf seinem zerfurchten Gesicht. »Aber was ist denn eigentlich passiert? Meine Sprechstundenhilfe sagte nur, daß ich vorbeikommen soll und daß es eilig wäre. Es ist doch nichts mit Ihrem Vater?«
»Marianne«, verbesserte ihn Mark kopfschüttelnd. »Es hat einen kleinen Unfall gegeben.«
»Ein Unfall?« Petri wirkte alarmiert. Vielleicht mehr, als er sollte.
»Es ist wirklich nichts Schlimmes, Doktor.« Marks Vater erschien unter der Tür und riß allein durch sein Auftauchen die Regie der Szene wieder an sich. Er lächelte knapp und ohne echtes Gefühl und fuhr fort: »Aber Mark hat schon recht – es ist besser, Sie sehen nach ihr. Kommen Sie, Doktor.«
Petri wirkte nun vollends verwirrt, aber sein Vater war nun wieder vollkommen zu dem Mann geworden, als den er ihn in Erinnerung hatte: Er sprach weder besonders laut noch mit besonderer Betonung, doch sein Wort war Befehl, der keinen Widerspruch duldete. Mark gestand es sich ungern ein, aber selbst er spürte die Autorität, die sein Vater ausstrahlte.
»Mark, wartest du bitte oben in der Bibliothek? Ich komme dann sofort nach.«
»Sicher.«
13. Kapitel
Warum muß es eigentlich immer so sein?« fragte Bre mer. »Hat denn plötzlich niemand mehr den Anstand, Schlaftabletten zu nehmen, sich zu erschießen oder wenigstens ins Wasser zu gehen?«
»Ich finde das nicht komisch«, sagte Sendig. Unter normalen Umständen hätte allein die Schärfe in seiner Stimme ausgereicht, Bremer zu alarmieren. Aber jetzt hob er nicht einmal den Blick, sondern sagte nur sehr leise und sehr ernst: »Es war auch nicht witzig gemeint. Aber ich weiß nicht, wie lange ich das noch ertrage. Auch ich habe nur Nerven, wissen Sie.«
Und die liefen im Moment beinahe Amok - zumindest die in seinem Magen und einigen anderen, tiefergelegenen Innereien. Dabei war der Anblick des Toten nicht einmal annähernd so schlimm wie der Löbachs in der vergangenen Nacht. Was ihn trotzdem beinahe schlimmer machte, war, daß er ihm ähnelte und Bremer w ieder an das zerschmetterte blu tige Etwas erinnerte, das zwischen Hansen und ihm auf dem Straßenpflaster gelegen hatte. Der Anblick von Mogrods Leichnam machte die Erinnerung an Löbach wieder lebendig und gab ihr eine Realität, die ihr nicht
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