AZRAEL
Frauengestalt, die unweit des Eingangs stand und erwartungsvoll zu ihm herübersah.
»Mich?« vergewisserte er sich. Niemand wußte, daß er hierherkommen würde. Vor einer halben Stunde hatte er es ja noch nicht einmal selbst gewußt.
»Sie hat nach Ihnen gefragt.«
Bremer bedankte sich, steckte seinen Ausweis wieder ein und trat ebenfalls durch die Tür, die Sendig noch immer ungeduldig aufhielt. Sein fragender Blick machte deutlich, daß er von dem kurzen Gespräch nichts mitbekommen hatte, aber Bremer ignorierte ihn. Es war zwar nur ein kleiner Triumph, aber immerhin - sollte Sendig doch zur Abwechslung einmal raten, was Sache war.
Die Frau kam ihm mit nervösen Schritten entgegen. Sie wirkte sehr unsicher und sehr ängstlich, fand Bremer. Er überlegte angestrengt, woher er sie kannte - sie war ihm nicht vollkommen fremd, das wußte er -, kam aber zu keiner Antwort. Sie war blond, sehr schlank und allerhöchstens zwanzig Jahre alt. Hätte sie nicht so verängstigt und müde ausgesehen, wäre sie sicher sehr hübsch gewesen.
»Herr Bremer?« Die Art, auf die sie ihn und nicht Sendig ansah, bewies Bremer, daß zumindest sie wußte, wer er war.
»Ja, bitte?« antwortete er.
»Bitte entschuldigen Sie, wenn ich... wenn ich Sie störe, aber ich...« Sie stockte. Ihre Stimme schwankte plötzlich, und Bremer hatte das sichere Gefühl, daß sie nur noch mit letzter Kraft die Tränen zurückhielt. Schließlich atmete sie hörbar ein und setzte neu an: »Haben Sie eine Minute Zeit für mich?«
»Sicher«, sagte Bremer. »Worum geht es denn? Kennen wir uns?«
»Ich... ich bin Angelika«, antwortete die junge Frau mit einem unsicheren Blick in Sendigs Richtung. »Angelika Hansen. Wir haben uns vor zwei Wochen kennengelernt.«
Hansen? Hansens Frau? Bremer erschrak. Natürlich. Der Junge hatte seine Frau am ersten Tag mit aufs Revier gebracht, um ihr seine neuen Kollegen vorzustellen. Aber damals hatte sie anders ausgesehen. Strahlender. Nicht so traurig. Bremer fühlte sich plötzlich sehr unwohl. Er hatte seit der vergangenen Nacht nicht mehr an Hansen gedacht, aber der Anblick seiner Frau erinnerte ihn schmerzlich wieder daran, daß diese ganze wahnsinnige Geschichte schon mehr Opfer gefordert hatte, als er wahrhaben wollte.
»Natürlich«, sagte er. »Bitte entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht sofort erkannt habe. Aber es ist -«
»Schon gut«, unterbrach sie ihn. »Es macht nichts. Ich... ich will Sie auch gar nicht lange aufhalten. Aber man hat mir gesagt, daß ich Sie hier finde, und —«
»Wer?« mischte sich Sendig ein.
Angelika blickte ihn verängstigt an, und Bremer fügte rasch und in möglichst beruhigendem Ton hinzu: »Das ist mein K ollege, Kommissar Sendig. Sie können ganz offen sprechen.«
»Auf dem Revier«, antwortete Angelika zögernd. »Ihre... Ihre Kollegen dort sagten, daß Sie mit Herrn Sendig unterwegs wären, und daß ich ihn wahrscheinlich hier finde. Und Sie auch.«
Sendig runzelte die Stirn, schwieg aber. Soviel zum Thema Geheimhaltung, dachte Bremer. Er fragte sich, ob es überhaupt irgend jemanden in dieser Stadt gab, der noch nicht wußte, daß Sendig und er zusammenarbeiteten.
»Wie geht es Ihrem Mann?« fragte er. »Ich bin leider noch nicht dazu gekommen, ihn zu besuchen. Er ist doch wieder okay, oder?«
»Ich... ich weiß es nicht«, sagte Angelika. Und damit war ihre Selbstbeherrschung endgültig erschöpft. Plötzlich begann sie zu schluchzen, kämpfte noch einen Moment lang weiter vergeblich gegen die Tränen und warf sich dann an Bremers Brust.
»Ich... ich weiß nicht, wo er ist«, schluchzte sie. »Sie wollen es mir nicht sagen.«
Bremer war vollkommen überrascht. Im ersten Moment verstand er nicht einmal, was Angelika meinte. Er sah Sendig an, erntete aber nur einen verwunderten Blick. Er hielt einige Sekunden still, ehe er die junge Frau an den Schultern ergriff und sehr sanft ein kleines Stück weit von sich fortschob, um ihr ins Gesicht zu sehen.
»Was soll das heißen: Sie wollen es Ihnen nicht sagen?«
Angelika schluchzte noch ein paarmal, dann hatte sie die Tränen wieder unter Kontrolle. Mit einer fahrigen Bewegung klappte sie ihre Handtasche auf und zog ein Papiertaschentuch hervor. Aber sie benutzte es nicht, sondern begann es nur nervös mit den Fingern zu kneten. »Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Ich wollte nicht - «
»Das ist schon in Ordnung«, unterbrach sie Sendig. »Ich wäre wahrscheinlich genauso aufgeregt an Ihrer Stelle. Was haben Sie
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