Azrael
das beunruhigende Gefühl, sie würde etwas Wichtiges vergessen. Plötzlich ertönte über ihr ein Schmerzensschrei.
Sie schaute nach oben und sah Abraxos, der für einen Moment vor einem Sonnenstrahl bis unter die Decke geflohen war. Wie Elfenstaub glitzerten die Fremdmineralienpartikel im Marmor. Nun bewegte der Adarianer sich etwas langsamer. Aber schon stürzte er sich wieder auf Az, der am noch dunklen Ende des Raums stand, und zog eine Rauchwolke hinter sich her.
Darauf war Azrael gefasst. Die beiden starken Körper stießen zusammen, bewegten sich erneut unglaublich schnell, und Az geriet in die Defensive. Dann hörte Sophie ein Wutgeheul.
Aber nicht Azraels. Seine Stimme würde sie überall und jederzeit erkennen. Sie sah, wie die beiden Kämpfer sich trennten, und Abraxos fiel zu Boden. Über den glatten Marmor rutschte er ins Sonnenlicht. Zischend sprang er auf, floh in den Schatten und starrte Sophie mit schwelenden blauen Augen an. Der harte Blickkontakt schien alles im Raum zu vereisen.
Geistesgegenwärtig trat Sophie in den Sonnenschein, der sie in schützende Wärme hüllte. Im grellen Licht sah sie nur undeutlich, wie Az zu Boden sank, mehrere Schritte von Abraxos entfernt, und den Feind unverwandt anschaute.
Abraxos sah zu ihm, dann zur aufgehenden Sonne, und die Stille zog sich in die Länge. Schließlich richtete er seinen Blick auf John Smith, der ihm zunickte.
Gregoris rätselhafter Assistent hob seine Hand, in deren Innenfläche Sophie eine schwarze Löwenzahnblüte erkannte.
Aus ihr strömte das Dunkel in den Raum. Ein Strahl schwarzer Magie schien Abraxos und Smith zu verbinden, umschlang ihre Körper, und beide verschwanden in der Finsternis, die sich daraufhin auflöste.
36
Eine seltsame Stille erfüllte den achteckigen Marmorraum. Nur Michaels und Azraels mühsame Atemzüge und der Morgenwind waren zu hören, der pfeifend durch das zerbrochene Fenster hereinwehte.
Wie angewurzelt stand Az da und starrte in den Sonnenschein, der Sophie umgab. Noch nie hatte er etwas Schöneres gesehen. Kein Gemälde wäre ihr gerecht geworden. Mit ihrem goldenen Haar und den schimmernden Flügeln sah sie tatsächlich aus wie ein Engel, und ihr aufrichtiger, unschuldiger Blick nahm ihm den Atem.
Durch alle Fenster des seltsam geformten Raums strömten nun die gefährlichen Strahlen herein und beleuchteten die schwebenden Staubkörnchen. In der zerborstenen Scheibe spiegelten sich die leuchtenden Saphire auf der Jacke des blauen Drachen, so wie sich die Smaragde auf der Jacke des grünen Drachen im Boden spiegelten. Allmählich füllte sich der Saal mit hellem Glanz.
Es gab keinen Schatten mehr. Eine Flucht ins Freie war sinnlos, denn draußen hatte der Tag begonnen. Und nirgendwo existierte eine Tür, die als Portal zum Herrenhaus hätte dienen können.
Nur Azraels große schwarze Gestalt verbreitete einen letzten Rest des Dunkels. Obschon nicht mehr lange, das wusste er. Doch wenn er sterben musste, wollte er vorher noch etwas tun.
»Sophie«, flüsterte er.
An einer der Wände richtete Michael sich auf, und Az spürte den prüfenden Blick seines Bruders. Aber er erwiderte ihn nicht, weil er nur Augen für seinen Sternenengel hatte.
Sophie ging durch den Sonnenschein zu ihm, zu dem kleinen dunklen Kreis, in dem er stand, und eine traurige Erkenntnis verdüsterte ihre schönen Züge. Im Licht sah er eine Träne auf ihrer rechten Wange glänzen.
Und dann lag sie in seinen Armen. So warm fühlte sie sich an. Die Sonne hatte ihren Körper erhitzt, ihrer Haut pulsierendes Leben eingehaucht. Und Az spürte es, badete im Licht ihrer Nähe. Zärtlich streichelte er ihr Haar und über ihre Flügel.
»So weich«, murmelte er. Unkontrollierbar schmerzte sein Herz. »So warm.«
»Az.«
Wie aus weiter Ferne drang eine männliche Stimme zu ihm. Azrael hörte sie kaum und ignorierte sie. Für ihn zählte nur Sophie, sein Traum, der Wirklichkeit geworden war. In ihrem Haar und den seidigen Federn ihrer Flügel spürte er die Sonne. Danach hatte er sich zweitausend Jahre lang mit allen Fasern seines Wesens gesehnt.
Ein Traum, so klar und rein und unerreichbar. Bis jetzt. Ein Traum, für den es sich zu sterben lohnte.
»Az.« Wieder die Stimme. Michaels Stimme, erkannte er vage und missachtete sie immer noch.
In seinen Armen begann Sophie zu zittern, ein Schluchzen erschütterte ihren ganzen Körper. Mit gesenkten Lidern küsste Azrael ihren Scheitel. Sonnenschein, dachte er konzentriert und hoffte, sie
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