Azrael
getrennt und verstreut worden wie welke Blätter in einem Hurrikan. Azrael hatte keine Ahnung, wo die anderen steckten, geschweige denn, was sie gerade machten. Und es interessierte ihn auch nicht. Nur eins wusste er: Als er seine menschliche Gestalt angenommen hatte, war er verwandelt worden.
Michaels Macht hatte nach dem Fall nachgelassen. Mehr oder weniger war das Wesen seiner übernatürlichen Kräfte gleich geblieben und der Erzengel immer noch der beste Kämpfer, den Azrael kannte, und wahrscheinlich der beste in der ganzen Schöpfung. Zudem besaß er nach wie vor seine Heilkräfte. Doch der Wirkungsbereich seiner Macht hatte sich verringert. Jetzt konnte er nur mehr beeinflussen, was sich in seiner unmittelbaren Umgebung befand, und das auch nur kurzfristig. Sein Körper ermüdete sehr schnell, er war hungrig und fühlte sich oft schwach. Auf drastische Weise hatte er sich verändert.
Aber nicht so sehr wie Azrael.
Der einstige Todesengel spürte eine andere Veränderung als Michael. Dunkler, schmerzlicher. Seine neue Gestalt schien wie der Inbegriff der negativen Energien, die er während seiner ewig langen früheren Existenz gesammelt hatte. In der Sphäre der Sterblichen hatte er als Sensenmann Unzähligen das Leben genommen. Nun belastete ihn das Gewicht dieser Seelen. Zu seiner Verwandlung gehörten die Reißzähne eines Ungetüms, eine Aversion gegen das Sonnenlicht, die ihn zur Flucht in nächtliche Schatten zwang, und – am allerschlimmsten – ein ständiger Durst nach Blut.
Immer Blut.
»Bitte, Michael.« Azraels breite Schultern zitterten ein wenig, als er die Hände zu Fäusten ballte und die mächtigen Muskeln an seinem Oberkörper hervortraten. Er musterte seine Hände, die schmalen, perfekten Finger, und bestaunte seine helle Haut. Welchen Kontrast sie zur Mitternachtsschwärze seines Haars bildete, wusste er. Nun war er ein personifizierter Widerspruch, und das galt sogar für seine Augen. Obwohl die Sonne in ihnen brannte, leuchtete seine Iris genauso wie dieser Riesenstern. Es war der blanke Hohn, grausam und gnadenlos. Jetzt gesellte sich Zorn zu dem Schmerz, der seinen übermenschlichen Körper durchströmte. Er fletschte seine Zähne, entblößte die blutroten Fänge. »Zwing mich nicht dazu zu betteln.«
Michael stand auf, wich zu einem der wenigen Bäume zurück und öffnete den Mund, um das Ansinnen seines Bruders erneut abzulehnen.
Da stürzte sich Azrael plötzlich auf ihn. Michaels Körper prallte gegen den Baumstamm, hinter ihm zersplitterte das Holz. Er war schwächer als noch vor wenigen Minuten. Dafür hatte Az gesorgt. Der Blutverlust beeinträchtigte die Reflexe des einstigen Kriegers. Obwohl er seine Wunden auch auf der Erde immer noch heilen konnte, misslang es ihm aus irgendwelchen Gründen, das fehlende Blut zu ersetzen. Eine neue Schwäche. Und gefährlich, weil er sich Azraels neuer blutrünstiger Gestalt ausgeliefert sah.
Seit zwei Wochen schon sahen sich die beiden Brüder nun jede Nacht in denselben Kampf verstrickt, und Az wusste nicht, wie lange sein Bruder noch durchhalten würde. Er selbst war trotz der Schmerzen, die ihn fast zum Wahnsinn trieben, sehr stark, vermutlich der kräftigste der vier Erzengel, doch der Blutdurst machte ihn zu einem wahren Monster und drohte, ihn zu verzehren.
Auf der Erde war das Leben anders. Bisher hatten sie keine Unannehmlichkeiten ertragen müssen. Keinen Hunger. Keinen Durst. Für beide waren diese Gefühle neu. Aber was immer Michael in seiner Menschengestalt erdulden musste – Azraels Qual war tausendmal schlimmer.
Vorher hatte kein Schmerz existiert. In keiner Form. Für keinen von ihnen. Was Leid bedeutete, hatte Az erst erkannt, als seine Seele hier unten gelandet war und sich in seiner jetzigen dunklen Gestalt wiedergefunden hatte.
Aber trotz allem, was er seinem Bruder zumutete, wusste Azrael, dass Michael ihn nicht aufgeben würde. Weder jetzt noch jemals. Der dumme Erzengel würde wohl eher sterben.
Mühsam schob Michael ihn weg. Az wich zurück, wartete lange genug, damit sein Bruder sich für einen weiteren sinnlosen Kampf wappnen konnte. Irgendwo kämpften Uriel und Gabriel nun wahrscheinlich genauso. Entweder gegeneinander oder gemeinsam gegen Feinde. Falls Az und Michael das hier überlebten und Azrael am nächsten Morgen nicht einfach ins Sonnenlicht ging, würden sich alle vier finden.
Aus einem ganz bestimmten Grund waren sie auf die Erde gekommen, wenn es Az in seinem derzeitigen Elend auch
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