Azrael
nicht nur den teuflischen Vertrag mit dem Gefallenen erfüllen, sondern vielleicht auch Michaels Leben retten. Denn sobald er selbst dessen Heilkunst besaß, konnte er sie anwenden.
Während er Mikes Blut trank, spürte er, wie sich die Flügel an seinem Rücken zusammenfalteten. Dieser Teil von ihm war auch in den letzten zweitausend Jahren immer vorhanden gewesen, aber versteckt, gewissermaßen außerhalb seiner Reichweite, doch jetzt so selbstverständlich, als hätte er seine Engelsgestalt nie eingebüßt.
Michaels Blut rann über Azraels Zunge, in die Kehle, füllte sein Inneres mit heilsamer Wärme. Als Vampir war er immun gegen die gefährliche Luft, die der Drache in die Adern des Bruders gepumpt hatte.
Hinter gesenkten Lidern sah er die Welt, wie sie vor zweitausend Jahren gewesen war, erinnerte sich an ihren Geruch, die Geräusche, das Gefühl, wie Michael zwischen seinen verzweifelten Zähnen gefangen gewesen war. Az schluckte das Blut. Aber diesmal war es anders, denn er trank es nicht für sich selbst.
Verzeih mir, Michael, flüsterte er in seinen Gedanken und nahm die Macht des anderen Erzengels in sich auf, die alle seine Zellen erfüllte, für immer.
Schließlich zog er seine Fänge aus Michaels Hals und legte den Krieger auf den Schattenboden. Mit geschlossenen Augen berührte er die Brust seines Bruders und stellte sich vor, wie die Luft aus dessen Adern wich. Das wünschte er mit aller Kraft.
Sekunden verstrichen, und er bemühte sich, nicht zu verzweifeln, sondern die gestohlene Magie in den Körper zurückzuzwingen, den sie verlassen hatte. Allmählich verlagerte sich die Macht aus seiner glühenden Hand in Michaels Brust und schließlich zum Herzen, das zu pochen begann.
Da öffnete Az die Augen und fühlte, wie Mikes Herz immer stärker schlug. »Michael«, flüsterte er und strich seinem Bruder über die Wange.
Auch Mike schlug seine Augen auf, die im Dunkel wie Saphire leuchteten. »Az.« Mehr brachte er nicht über die Lippen, vom Blutverlust geschwächt.
Azrael hob ihn hoch. Angeber, schimpfte Michael in Gedanken.
Das ignorierte Azrael. Führt mich zum Ziel, forderte er die Schatten auf. Ohne ein Wunder würde er Sophies Spur niemals finden. Zu viel Zeit war vergangen, seit Abraxos die Schatten durchquert hatte. Bringt mich zu ihr. Az nutzte all seine Macht, erweckte die Finsternis zum Leben, verzweifelt wie nie zuvor.
Hier entlang.
Er folgte dem Hinweis, klammerte sich an die hilfreiche Magie und verschmolz mit den Schatten. Bald wurden sie dünner, und er sah Licht hinter der letzten Barriere, das Ende des Wegs.
Hinter dieser Schattentür wartete Sophie.
Sie beobachtete, wie Gregori zurücktrat und im leuchtenden Marmorweiß verschwand. Nun war sie allein mit John Smith, Abraxos und den beiden Männern in den Lederjacken voller Juwelen.
Was Gregori soeben gesagt hatte, lastete bleischwer auf ihrer Seele. Nicht nur zum Tod hatte er sie verdammt, sondern sie auch noch ihrem Entführer ausgeliefert. Sie drehte sich zu ihm um, ihre Flügel falteten sich wie von selbst zusammen. Zu schade, dass ich sterben werde. So gern würde ich sie ausprobieren.
»Sie müssen nicht sterben, Sophie«, sagte Abraxos durch lange weiße Fänge.
Also hatte ich recht, er ist ein Vampir. Sie schaute zu den Fenstern, zum drohenden Sonnenaufgang, den kein Vampir verkraften würde. Zeig dich endlich, dachte sie verzweifelt. Wie langsam die Zeit hier verstrich. Wenn die Sonne scheint, habe ich vielleicht eine Chance.
Zum ersten Mal musterte sie ihren Kidnapper etwas genauer. Er war ein sehr attraktiver Mann mit markantem Kinn, breitschultrig und groß. Allerdings nicht so groß wie Gregori. In der paranormalen Welt schien besondere Körpergröße auf gehobene Ränge hinzuweisen.
Abraxos’ blaue Augen betonten die bläulichen Glanzlichter in seinem schwarzen Haar. In den sternförmigen Pupillen funkelten unheimliche rote Flammen.
Weil Sophie nichts zu sagen wusste, schwieg sie.
Freundlich und zugleich grausam lächelte er sie an. »Aber Sie werden Azrael wohl kaum aufgeben und mir Ihre Heilkunst versprechen, also müssen Sie vielleicht doch sterben.«
Sie wich automatisch zurück und versuchte nachzudenken. In diesem Raum konnte sie nichts tun. Instinktiv lief sie zum nächstbesten Fenster.
Doch sie wurde am Arm gepackt und zurückgerissen. Das Haar wehte ihr ins Gesicht, ihre Flügel breiteten sich aus, durch den Widerstand der Luft verlangsamten sie die Bewegung. Und dann neigte sich eine
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