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zu versuchen.
»Heute Abend bin ich mit einem Freund zum Essen verabredet«, wiederholte Raj, »und murmel, murmel, murmel wandern.«
»Mein Eindruck von Ihnen ist«, sagte Professor Ni freundlich zu Raj, »dass ich Ihnen viel Arbeit aufhalsen kann und Ihnen dabei nicht sonderlich viel Beachtung schenken muss. Denken Sie daran: In Silicon Valley können Sie der intelligenteste und fähigste Mensch sein, aber wenn Sie sich abgesehen von Ihrer Arbeit nicht ausdrücken können, wird man Sie unterschätzen. Viele im Ausland geborene Fachkräfte erleben das. Dann sind Sie ein besserer Hilfsarbeiter statt eine Führungspersönlichkeit.«
Die Teilnehmer nickten mitfühlend.
»Aber es gibt für Sie eine Möglichkeit, Sie selbst zu sein«, fuhr Ni fort, »und durch Ihre Stimme mehr von sich zu zeigen. Viele Asiaten verwenden nur eine begrenzte Anzahl von Muskeln beim Sprechen. Also beginnen wir mit dem Atmen.«
Damit bat er Raj, sich auf den Fußboden zu legen und die fünf Grundvokale im Englischen auszusprechen. »A…E…U…O…I…«, intonierte Raj, während seine Stimme von unten zu uns drang. »A…E…U…O…I…A…E…U…O…I…«
Schließlich ließ Professor Ni den jungen Inder wieder aufstehen.
»Nun, was für interessante Sachen haben Sie nach dem Seminar vor?«, fragte er und klatschte ermunternd in die Hände.
»Heute Abend bin ich bei einem Freund zum Abendessen eingeladen, und morgen gehe ich mit einem anderen Freund wandern!« Rajs Stimme klang nur unwesentlich lauter als vorher, doch das Seminar applaudierte herzlich.
Der Professor selbst ist ein typisches Beispiel für das, was passieren kann, wenn man an sich arbeitet. Nach dem Seminar besuchte ich ihn in seinem Büro, und er erzählte mir, wie schüchtern er in seiner ersten Zeit in Amerika gewesen war – und dass er sich Situationen wie einem Sommercamp und der Business School aussetzte, in denen er üben konnte, sich extravertiert zu verhalten, bis es ihm leichter fiel. Heutzutage hat er eine erfolgreiche Beratungspraxis mit Kunden, zu denen Yahoo!, Chevron und Microsoft zählen, und lehrt genau die Fertigkeiten, die er sich selber mit viel Mühe erworben hat.
Aber dann begannen wir über die asiatische Vorstellung von »sanfter Macht« zu sprechen – was Ni »Führen mittels Wasser statt Feuer« nennt –, und ich lernte eine andere Seite von ihm kennen, die weniger beeindruckt vom westlichen Kommunikationsstil war. »In asiatischen Kulturen«, sagte Ni, »gibt es oft eine subtile Weise, sich das zu holen, was man will. Sie ist nicht immer aggressiv, aber sie kann sehr entschlossen und sehr geschickt sein. Am Ende wird dadurch viel erreicht. Mit aggressiver Macht teilt man Schläge aus, mit sanfter Macht gewinnt man andere für sich.«
Ich bat den Professor um praktische Beispiele für die Macht der Sanftmut, und seine Augen leuchteten, als er mir von Klienten berichtete, deren Stärke in ihren Ideen und ihrer Überzeugung lag. Viele dieser Menschen organisierten Mitarbeitergruppen – Frauengruppen, Gruppen zu bestimmten Themen – und hatten es geschafft, Menschen durch Überzeugung statt durch dynamisches Auftreten für ihre Sache zu gewinnen. Er sprach auch über Gruppen wie »Mütter gegen Fahren unter Alkoholeinfluss« – Menschen, die nicht durch die Macht ihres Charismas, sondern kraft ihrer Fürsorge das Leben anderer ändern. Ihre Kommunikationsfähigkeit reicht aus, um ihre Botschaft zu vermitteln, ihre wirkliche Kraft jedoch kommt aus ihrer Substanz.
»Auf lange Sicht«, meinte Ni, »ändern sich die Menschen, wenn die Idee gut ist. Wenn die Sache gerecht ist und Sie Ihr Herz hineinlegen, ist es fast ein universales Gesetz, dass Sie Mitstreiter für Ihre Sache gewinnen werden. Die Macht der Sanftmut liegt in der stillen Beharrlichkeit. Die Menschen, an die ich denke, sind sehr beharrlich in ihren persönlichen Interaktionen im Alltag. Irgendwann haben sie ein Team beieinander.«
Die Macht der Sanftmut haben Ni zufolge Menschen in der Geschichte praktiziert, die wir bewundern und verehren, Menschen wie Mutter Teresa, Buddha oder Gandhi. Ich war erstaunt, als Ni Gandhi erwähnte. Ich hatte fast alle Highschool-Schüler, die ich in Cupertino kennengelernt hatte, gebeten, mir eine große Persönlichkeit zu nennen, die sie bewunderten, und viele hatten Gandhi genannt. Was inspirierte sie so an ihm?
Gandhi war, wenn man seiner Autobiografie folgt, ein von Natur aus scheuer und stiller Mensch. 12 Als Kind hatte er
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