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den Schülern den Test aushändigt, werden sie auch gebeten, einen lästigen Fragenkatalog auszufüllen, angefangen damit, wie sehr sie Naturwissenschaften mögen, bis hin dazu, ob es bei ihnen zu Hause genügend Bücher gibt, um drei oder mehr Bücherregale zu füllen. Das Beantworten des Fragebogens nimmt sehr viel Zeit in Anspruch, und da er für die Endnote nicht zählt, lassen viele Schüler eine Reihe von Fragen aus. Man muss sehr beharrlich sein, um jede zu beantworten. Aber wie eine von dem Pädagogikprofessor Erling Boe durchgeführte Untersuchung ergeben hat, sind die Länder, in denen die Schüler den Fragebogen sorgfältiger ausfüllen, meist auch die Länder, die bei dem Mathematikteil des TIMMS-Tests gut abschneiden. Ausgezeichnete Schüler scheinen mit anderen Worten nicht nur die kognitive Fähigkeit zu besitzen, mathematische und naturwissenschaftliche Aufgaben zu lösen, sondern haben auch ein nützliches Persönlichkeitsmerkmal: stille Beharrlichkeit.
Andere Studien haben einen ungewöhnlich hohen Grad an Beharrlichkeit selbst bei sehr jungen asiatischen Kindern gemessen. Die interkulturelle Psychologin Priscilla Blinco beispielsweise gab japanischen und amerikanischen Erstklässlern ein kompliziertes und letztlich unlösbares Puzzle, das sie ganz allein ohne die Hilfe anderer Kinder oder eines Lehrers lösen sollten, und verglich, wie lange sie herumprobierten, bevor sie aufgaben. 14 Die japanischen Kinder verbrachten durchschnittlich 13,93 Minuten mit dem Puzzle, bevor sie die Segel strichen, während die amerikanischen Kinder schon nach 9,47 Minuten aufgaben. Weniger als 27 Prozent der amerikanischen Schüler hielten so lange durch wie das durchschnittliche japanische Kind – und nur zehn Prozent der japanischen Kinder gaben so rasch auf wie das durchschnittliche amerikanische Kind. Blinco führt diese Ergebnisse auf die japanische Eigenschaft der Beharrlichkeit zurück.
Die stille Beharrlichkeit, wie sie viele Asiaten und asiatischstämmige Amerikaner besitzen, ist nicht auf das Gebiet der Mathematik und Naturwissenschaften beschränkt. Mehrere Jahre nach meiner ersten Reise nach Cupertino nahm ich noch einmal mit Tiffany Liao Kontakt auf, der Highschool-Schülerin, die von ihren Eltern als Kind gelobt wurde, weil sie – selbst in Gesellschaft – gern las. Bei unserer ersten Begegnung war Tiffany eine 17-Jährige mit einem Babygesicht, die im Begriff stand, das College-Studium anzutreten. Sie freute sich darauf, an die Ostküste zu gehen und andere Menschen kennenzulernen, aber hatte auch Angst davor, an einem Ort zu leben, wo niemand sonst Perlentee – ein beliebtes Getränk aus Taiwan – trinken würde.
Mittlerweile stand Tiffany vor ihrem Collegeabschluss und wirkte erfahren und mondän. Sie hatte ein Jahr an einer spanischen Hochschule studiert. Die Grußformel am Ende ihrer Mitteilungen hatte einen europäischen Touch: »Abrazos , Tiffany.« Auf ihrem Foto bei Facebook war das kindliche Aussehen verschwunden und durch ein Lächeln ersetzt, das immer noch sanft und freundlich, aber auch lebensklug war.
Tiffany war auf dem besten Weg, sich ihren Traum, Journalistin zu werden, zu erfüllen, nachdem sie gerade zur Chefredakteurin der Hochschulzeitung gewählt worden war. Sie beschrieb sich immer noch als schüchtern – sie berichtete, dass sie rot wurde, wenn sie zum ersten Mal vor anderen sprach oder den Telefonhörer abhob, um einen Fremden anzurufen –, aber es fiel ihr inzwischen sehr viel leichter, sich zu äußern. Sie glaubte auch, dass ihre »stillen Wesenszüge«, wie sie sie nannte, ihr geholfen hatten, Chefredakteurin zu werden. Für sie bedeutete sanfte Macht, aufmerksam zuzuhören, sich gründliche Notizen zu machen und sich umfassend über ihre Interviewpartner zu informieren, bevor sie mit ihnen persönlich zusammentraf. »Dieser Prozess hat zu meinem Erfolg als Journalistin beigetragen«, schrieb sie mir. Tiffany hatte gelernt, die Macht der Stille zu akzeptieren.
Als ich Mike Wei, dem Studenten an der Standford University, der sich wünschte, so ungehemmt wie seine Kommilitonen zu sein, zum ersten Mal begegnete, sagte er mir, es gäbe keine stillen Menschen in Führungspositionen. »Wie kann man Menschen vermitteln, dass man von etwas überzeugt ist, wenn man sich nicht äußert?«, fragte er. Ich versicherte ihm, dass das ein Irrtum sei, aber paradoxerweise war Mike so fest von der Unfähigkeit stiller Menschen überzeugt, anderen ihre Überzeugung zu
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