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vor allem und jedem Angst: vor Dieben, Geistern, Schlangen, der Dunkelheit und insbesondere vor anderen Menschen. Er vergrub sich in seine Bücher und lief nach Schulschluss sofort nach Hause, weil er mit niemandem reden wollte. Selbst nachdem man ihn als jungen Mann in den Vorstand der Vegetarischen Gesellschaft gewählt hatte – seine erste Führungsposition –, ging er zu jeder Versammlung, war aber zu schüchtern, sich zu äußern.
»Mit mir sprechen Sie ganz normal«, sagte eines der Mitglieder zu ihm verwirrt. »Wie kommt es, dass Sie bei den Vorstandssitzungen nie den Mund aufmachen? Sie sind ein Drückeberger.« Als es im Vorstand eine politische Auseinandersetzung gab, hatte Gandhi zwar einen festen Standpunkt dazu, traute sich aber nicht, ihn zu äußern. Er schrieb seine Gedanken nieder und hatte vor, sie bei der Versammlung laut vorzulesen. Aber am Ende war er sogar dazu zu feige.
Gandhi lernte mit der Zeit, seine Schüchternheit in den Griff zu bekommen, aber er überwand sie nie wirklich. Er konnte nicht aus dem Stegreif sprechen. Wenn es sich einrichten ließ, vermied er es, Reden zu halten. Selbst in seinen späteren Jahren schrieb er: »Ich glaube nicht, dass ich je dazu neigen könnte oder würde, an einem Treffen von Freunden teilzunehmen, die sich nur unterhalten.«
Aber mit seiner Schüchternheit ging eine ihm ganz eigene Stärke einher – eine Art Selbstbeherrschung, die man am besten anhand von kaum bekannten Episoden in Gandhis Biografie illustrieren kann.
Als junger Mann beschloss er, nach England zu gehen, um gegen den Willen der führenden Männer in seiner Unterkaste der Modhi Bania Jura zu studieren. Kastenangehörigen war es verboten, Fleisch zu essen, und die Anführer glaubten, es sei unmöglich, in England Vegetarier zu sein. Doch Gandhi hatte seiner geliebten Mutter bereits gelobt, sich des Fleischgenusses zu enthalten, sodass er keine Gefahr in der Reise sah. Das teilte er dem Sheth , dem Anführer der Gemeinschaft, mit.
»Willst du dich über die Anordnungen der Kaste hinwegsetzen?« , fragte der Sheth.
»Ich weiß wirklich nicht, was ich machen soll«, antwortete Gandhi. »Ich denke, die Kaste sollte sich nicht in die Sache einmischen.«
Er wurde auf der Stelle aus der Kaste ausgeschlossen – ein Urteil, das bestehen blieb, selbst als er mehrere Jahre später aus England zurückkehrte mit der Verheißung auf Erfolg, die einen jungen, Englisch sprechenden Anwalt umgab. Die Gemeinschaft war in der Frage, wie man ihn behandeln sollte, gespalten. Das eine Lager hieß ihn willkommen, das andere lehnte ihn ab. Das bedeutete, dass Gandhi nicht einmal im Hause anderer Kastenangehörigen essen oder trinken durfte – auch nicht bei seiner eigenen Schwester, seiner Mutter und seinem Schwiegervater.
Ein anderer Mann, so wusste Gandhi, hätte Einspruch eingelegt und die Wiederaufnahme in die Kaste gefordert. Aber Gandhi erschien das nicht sinnvoll. Er wusste, dass Streit nur Vergeltung nach sich ziehen würde. Stattdessen befolgte er die Wünsche des Sheths und hielt sich sogar von seiner eigenen Familie fern. Seine Schwester und seine Schwiegereltern waren bereit, ihn insgeheim bei sich zu Hause zu empfangen, doch er lehnte es ab.
Und was war das Ergebnis dieser bereitwilligen Kooperation? Die Unterkaste hörte nicht nur auf, ihm Scherereien zu machen, sondern ihre Mitglieder – auch die, die ihn hinausgeworfen hatten – unterstützten ihn später bei seiner politischen Arbeit, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Sie behandelten ihn freundlich und großzügig. »Es ist meine Überzeugung«, schrieb Gandhi später, »dass all diese guten Entwicklungen auf meine Widerstandslosigkeit zurückzuführen sind. Hätte ich agitiert, um wieder in die Kaste aufgenommen zu werden, hätte ich versucht, sie in noch weitere Lager zu spalten oder die Männer in der Kaste zu provozieren, dann hätten sie sich mit Sicherheit gerächt, und statt dem Sturm zu entgehen, wäre ich bei meiner Rückkehr aus England in einen Strudel der Unruhe geraten.«
Dieses Muster – zu akzeptieren, was ein anderer von ihm forderte – wiederholte sich in Gandhis Leben immer wieder. Als junger Anwalt in Südafrika bat er um Aufnahme in die örtliche Anwaltsvereinigung. Die Juristische Gesellschaft wollte keine indischen Mitglieder und versuchte, seine Zulassung zu verhindern, indem sie die Originalausfertigung eines Zeugnisses verlangte, das am Obersten Gerichtshof in Bombay lag und daher für ihn
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