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beschreibt Robert Rubin, Finanzminister unter Präsident Clinton, dass es ihm »immer lieb war, mich fernab vom Mittelpunkt aufzuhalten, sei es im Büro des Präsidenten oder dem Büro des Stabschefs, wo mein angestammter Platz am unteren Ende des Tisches war. Dieses Minimum an physischer Distanz war mir angenehmer, es ermöglichte mir zu studieren, was im Raum vor sich ging, und es aus einer leicht distanzierten Perspektive zu kommentieren. Ich machte mir keine Sorgen, dass man mich übersehen könnte. Ganz gleich, wie weit weg ich saß oder stand, ich konnte immer einwerfen: ›Mr. President, ich glaube dies, das oder jenes.‹« 7
Wir wären alle gut beraten, wenn wir uns vor Antritt einer neuen Stelle das Vorhanden- oder Nichtvorhandensein von Regenerationsnischen genauso sorgfältig anschauen würden wie die Regelungen beim Erziehungsurlaub oder der Krankenversicherung. Introvertierte sollten sich fragen: Kann ich in diesem Job Zeit mit Tätigkeiten verbringen, die meinem Naturell entsprechen, wie Lesen, Strategien entwerfen, Schreiben und Recherchieren? Werde ich einen privaten Arbeitsplatz haben oder den konstanten Anforderungen eines Großraumbüros unterworfen sein? Wenn die Stelle mir nicht genug Regenerationsmöglichkeiten bietet, werde ich dann abends und am Wochenende genug Freizeit haben, um sie mir selbst zu verschaffen?
Auch Extravertierte sollten nach Regenerationsnischen Ausschau halten. Beinhaltet die Arbeit Reden, Reisen und die Begegnung mit anderen Menschen? Ist der Arbeitsplatz stimulierend genug? Falls der Job nicht vollkommen stimmig ist, sind die Arbeitszeiten dann so flexibel, dass Sie nach der Arbeit Dampf ablassen können? Schauen Sie sich die Stellenausschreibung sorgfältig an. Eine hoch extravertierte Frau, die ich interviewt habe, war begeistert von einem Stellenangebot als »Community-Organisatorin« für eine Erziehungswebseite, bis sie begriff, dass sie jeden Tag von neun bis fünf ganz allein vor einem Computer sitzen würde.
Manchmal finden Menschen Regenerationsnischen in Berufen, in denen man sie am wenigsten erwarten würde. Eine meiner Exkolleginnen ist Strafverteidigerin und verbringt den Großteil ihrer Zeit in erhabener Einsamkeit mit Recherchen und dem Verfassen juristischer Schriftsätze. Da die meisten ihrer Fälle geschlichtet werden, muss sie so selten vor Gericht gehen, dass es ihr nichts ausmacht, ihre pseudoextravertierten Fähigkeiten einzusetzen, wenn es sich nicht umgehen lässt. Eine introvertierte Sekretärin, die ich interviewt habe, setzte ihre Berufserfahrung ein, um von zu Hause aus ein Internetbüro aufzuziehen, das als Abrechnungsstelle und als Coaching-Service für »virtuelle Sekretariate« fungiert. Und im nächsten Kapitel werden wir einen höchst erfolgreichen Geschäftsmann kennenlernen, der die Verkaufsrekorde seiner Firma Jahr für Jahr dadurch brach, dass er seinem introvertierten Selbst beharrlich treu blieb. Diese drei Menschen haben entschieden extravertierte Tätigkeitsfelder so nach ihren eigenen Vorstellungen umgestaltet, dass sie die meiste Zeit in Einklang mit ihrem Naturell handeln und ihre Arbeitstage geschickt in eine einzige riesige Regenerationsnische verwandeln konnten.
Es ist nicht immer leicht, Regenerationsnischen zu finden. Vielleicht möchten Sie gern Ihren Samstagabend lesend am Kamin verbringen, aber wenn Ihre Ehepartnerin sich wünscht, diese Abende mit ihrem großen Freundeskreis zu verbringen, was dann? Sie möchten sich vielleicht zwischen Verkaufsgesprächen in die Oase Ihres Privatbüros zurückziehen, aber was, wenn Ihre Firma gerade zu Großraumbüros übergegangen ist? Wenn Sie nach dem Free-Trait-Prinzip leben wollen, werden Sie die Hilfe von Freunden, Familie und Kollegen brauchen. Deshalb ruft Professor Little uns alle leidenschaftlich auf, beim Free-Trait-Abkommen mitzumachen. 8
Das ist der Schlussstein in der Free-Trait-Theorie. Mit dem Free-Trait-Abkommen erkennen wir unsere Bereitschaft an, zeitweise gegen unser Naturell zu handeln im Austausch dafür, dass wir die übrige Zeit wir selbst sein dürfen. Es ist ein Free-Trait-Abkommen, wenn eine Ehefrau, die samstagabends ausgehen will, und ein Ehemann, der sich am Kamin entspannen will, einen Zeitplan ausarbeiten: In der Hälfte der Zeit gehen wir aus, in der anderen Hälfte bleiben wir zu Hause. Es ist ein Free-Trait-Abkommen, wenn Sie vor der Hochzeit Ihrer extravertierten besten Freundin an ihrer Verlobungsfeier, ihrem Polterabend und ihrem
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