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Titel: B00B5B7E02 EBOK Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Cain
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Kanzlei. Jetzt bewarb sie sich bei verschiedenen Firmen um den Posten einer Leiterin der Rechtsabteilung, was wie der nächste logische Schritt aussah, aber nicht wirklich ihr Herzenswunsch war. Und tatsächlich hatte sie kein einziges Stellenangebot erhalten. Aufgrund ihrer guten Arbeitszeugnisse kam sie bei Bewerbungen immer in die engere Wahl, nur um in der letzten Minute eine Absage zu erhalten. Und sie wusste auch, warum, denn der Headhunter, der ihre Vorstellungsgespräche koordiniert hatte, gab ihr jedes Mal dasselbe Feedback: Sie hatte nicht die richtige Persönlichkeit für den Job. Alison, die sich selbst als Introvertierte einstufte, verzog ihr Gesicht schmerzvoll, als sie von diesem niederschmetternden Urteil berichtete.
    Die zweite Harvard-Absolventin, Jillian, hatte inzwischen einen Chefposten in einer Organisation für Umweltrecht und liebte ihre Arbeit. Jillian wirkte freundlich, fröhlich und bodenständig. Sie hatte das Glück, dass ein Großteil ihrer Arbeit der Recherche und dem Verfassen von Strategiepapieren, die ihr wichtig waren, galt. Manchmal musste sie jedoch Konferenzen leiten und Vorträge halten. Auch wenn sie nach diesen Konferenzen eine tiefe Befriedigung empfand, machte ihr das Rampenlicht keine Freude – und sie wollte einen Rat von mir, wie sie locker bleiben könne, wenn sie Angst hatte.
    Worin bestand der Unterschied zwischen Alison und Jillian? Beide waren Pseudoextravertierte, doch während Alison es mit der Extravertiertheit probiert hatte und gescheitert war, hatte Jillian Erfolg gehabt. Aber Alisons Problem bestand darin, dass sie im Dienste eines Projekts, das ihr nicht am Herzen lag, wider ihr Naturell lebte. Sie liebte die Juristerei nicht. Sie hatte sich entschieden, Anwältin an der Wall Street zu werden, weil sie glaubte, dass mächtige und erfolgreiche Juristen das tun. Ihre Pseudo-extraversion war nicht von tieferen Werten getragen. Sie sagte sich nicht: Das tue ich, um eine Arbeit zu machen, die mir am Herzen liegt, und sobald die Arbeit erledigt ist, kehre ich zu meinem wahren Selbst zurück. Stattdessen lautete ihr inneres Credo: Der Weg zum Erfolg ist, die Art von Person zu sein, die ich nicht bin. Das ist nicht Selbstbeobachtung; es ist Selbstnegation. Wo Jillian wider ihr Naturell handelte um wertvoller Aufgaben willen, die vorübergehend eine andere Orientierung forderten, hatte sich Alison in den Gedanken versteift, dass etwas fundamental falsch an ihrer Art war.
     
    Wie sich herausstellt, ist es nicht immer leicht, die uns wichtigen persönlichen Anliegen zu identifizieren. Und Introvertierten kann es besonders schwerfallen, weil sie einen so großen Teil ihres Lebens damit verbracht haben, sich an extravertierte Normen anzupassen, dass es ihnen, wenn sie alt genug sind, um einen Beruf zu ergreifen oder sich zu etwas berufen zu fühlen, vollkommen normal erscheint, über ihre eigenen Wünsche hinwegzugehen. Vielleicht fühlen sie sich unwohl mit dem Jurastudium, der Krankenschwesternausbildung oder den Marketingaufgaben, aber nicht mehr als bei der Anpassung an die Highschool-oder Zeltlager-Zeiten.
    Auch ich war einmal in dieser Lage. Mir machte es Spaß, Firmenrecht zu praktizieren, und eine Zeitlang redete ich mir ein, dass ich im tiefsten Herzen eine Anwältin sei. Ich wollte es unbedingt glauben, weil ich bereits das jahrelange Jurastudium und die ganze praktische Berufserfahrung investiert hatte, und es gab auch viele verlockende Seiten als Juristin an der Wall Street. Meine Kollegen waren überwiegend intellektuelle, freundliche und rücksichtsvolle Menschen. Ich verdiente gut. Ich hatte ein Büro auf der 42. Etage eines Wolkenkratzers mit Blick auf die Freiheitsstatue. Ich war von dem Gedanken angetan, dass ich imstande war, mich in einer so hochkarätigen Umgebung erfolgreich zu behaupten. Und ich war ganz gut darin, die »Aber«- und »Was, wenn«-Fragen zu stellen, die für den Denkprozess der meisten Anwälte zentral sind.
    Aber ich brauchte beinahe ein Jahrzehnt, um zu verstehen, dass die Juristerei nie meine Herzensangelegenheit war, nicht einmal annähernd. Heute kann ich, ohne zu zögern, sagen, was dies ist: das Leben mit meinem Mann und meinen Söhnen, das Schreiben und das Eintreten für die in diesem Buch geschilderten Werte. Sobald ich das begriff, musste ich etwas ändern. Heutzutage blicke ich auf meine Zeit als Anwältin an der Wall Street zurück wie auf eine Zeit in einem fremden Land. Sie war herausfordernd, sie war aufregend, und

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