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würde.
Aber Little, ein moralisch denkender und mitfühlender Mensch, der zufällig auch über eine außerordentlich hohe Selbstbeobachtung verfügt, sieht das anders. Er betrachtet Selbstbeobachtung als Akt der Bescheidenheit. Sie dient der Anpassung des eigenen Selbst an Normen, die in der Situation gelten, statt dass man alles »auf die eigenen Bedürfnisse und Sorgen herunterbuchstabiert«. Nicht alle Selbstbeobachtung basiert auf Schauspielerei, sagt er, oder darauf, vor anderen gut dastehen zu wollen. Bei einer introvertierteren Version geht es vielleicht weniger darum, im Rampenlicht zu stehen, als um das Vermeiden gesellschaftlicher Fauxpas und das Ertasten des angemessenen Verhaltens. Wenn Professor Little großartige Reden hält, dann teilweise deswegen, weil er sich in jedem Augenblick selbst beobachtet, seine Zuhörerschaft ständig auf subtile Anzeichen des Vergnügens oder der Langeweile absucht und seinen Vortrag so korrigiert, dass er ihren Bedürfnissen entspricht.
Wenn Sie es also vortäuschen können , wenn Sie das Schauspieltalent, die Beobachtungsgabe für Nuancen im Miteinander und die Bereitwilligkeit haben, sich an soziale Normen anzupassen, die man für die Selbstbeobachtung braucht – sollten Sie es dann tun? Die Free-Trait-Strategie kann effektiv sein, wenn sie vernünftig angewendet wird, aber ein Desaster, wenn man sie übertreibt.
Vor Kurzem wurde ich zu einer Podiumsdiskussion an der Harvard Law School eingeladen. Der Anlass war der 55. Jahrestag der Zulassung von Frauen zum Jurastudium. Ehemalige aus dem ganzen Land versammelten sich auf dem Campus, um zu feiern. Das Thema der Podiumsdiskussion lautete: »Mit einer anderen Stimme: Strategien für eine wirksame Selbstdarstellung«. Es gab vier Diskussionsteilnehmerinnen: eine Strafverteidigerin, eine Richterin, eine Rhetoriktrainerin und mich. Ich hatte meinen Beitrag sorgfältig vorbereitet. Ich wusste, welche Rolle ich spielen wollte.
Zuerst kam die Rhetoriktrainerin an die Reihe. Sie erläuterte, wie man eine Rede hält, die die Zuhörer mitreißt. Die Richterin, eine Amerikanerin koreanischer Herkunft, sprach davon, wie frustrierend das Vorurteil für sie sei, nach dem alle Asiaten von vornherein als still und reserviert gelten, wo sie doch in Wirklichkeit ein zugänglicher und durchsetzungsfähiger Mensch sei. Die Strafverteidigerin, eine zierliche und über die Maßen angriffslustige Blondine, berichtete, wie ein Richter sie einmal bei einem Kreuzverhör ermahnt hatte: »Ziehen Sie die Krallen ein, Tigerfrau.«
Als ich an die Reihe kam, zielte ich mit meinem Beitrag auf die Frauen im Publikum ab, die sich weder für Tigerinnen oder Vorurteilsbekämpfer noch für Frauen hielten, die andere mitreißen. Ich sprach darüber, dass Menschen glaubten, Verhandlungsfähigkeiten seien angeboren wie blondes Haar oder schöne Zähne, und dass sie oft davon ausgingen, dass den Sprücheklopfern die Welt gehörte. Jeder könne eine gute Verhandlung führen, sagte ich, und oft zahle es sich in der Tat aus, ruhig und kultiviert zu sein, mehr zuzuhören als zu sprechen und einen Harmonieanstelle eines Konfliktinstinkts zu haben. Auf diese Weise könne man offensive Positionen vertreten, ohne das Ego des Verhandlungspartners gegen sich aufzubringen. Nur durch Zuhören könne man lernen, was den Verhandlungspartner wirklich motiviert, und die kreativen Lösungen finden, die beide Seiten glücklich machen.
Ich teilte auch einige psychologische Tricks mit, um sich in einschüchternden Situationen ruhig und sicher zu fühlen. Man könne beispielsweise die eigene Mimik und Körpersprache in Augenblicken wirklichen Selbstvertrauens studieren und genau diese Haltung einnehmen, wenn man Selbstvertrauen vortäuschen müsse. Untersuchungen zeigten, dass einfache physische Maßnahmen wie ein Lächeln uns das Gefühl gäben, stärker und glücklicher zu sein, während Stirnrunzeln sich negativ auf unser Befinden auswirke.
Als die Zuhörerinnen und Zuhörer nach dem Ende der Podiumsdiskussion nach vorn kamen, um sich noch mit den Frauen aus der Diskussionsrunde zu unterhalten, waren es selbstverständlich die Introvertierten und Pseudoextravertierten, die sich an mich wandten. Zwei dieser Frauen sind mir im Gedächtnis geblieben.
Die erste hieß Alison und war Anwältin. Alison war schlank und sorgfältig gekleidet, aber ihr blasses und abgezehrtes Gesicht hatte einen unglücklichen Ausdruck. Sie arbeitete seit über zehn Jahren in derselben
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