Babel Gesamtausgabe - Band 1-3
DAMALS
Babels 4. Geburtstag
Ihr kleines Mädchen saß auf einem hässlichen blauen Plastikstuhl am Fenster, und die hereinfallende Sonne brachte Babels helles Haar zum Leuchten. Die kleinen Füße in den gelb-rot gestreiften Sandalen baumelten eine Handbreit über dem Boden, und die blonden Locken fielen wie ein Vorhang vor das Gesicht. Die schmalen Schultern zitterten, als würde das Kind trotz der Wärme frieren.
»Es tut mir wirklich leid, aber wir sehen uns außerstande, Ihre Tochter weiterhin zu betreuen.«
Maria wandte den Blick von Babel ab und drehte sich der älteren Frau auf der anderen Seite des Schreibtischs zu. Mit überheblicher Miene musterte die Kindergartenleiterin Maria über den Rand einer goldenen Brille hinweg.
»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz«, erwiderte Maria. »Ich dachte, bisher hätte meine Tochter alle Voraussetzungen erfüllt, die der Kindergarten verlangt.« Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück und verschränkte die Finger im Schoß. »Sie hat ordentliche Tischmanieren, sie hält ihren Mittagsschlaf, meine Tochter beteiligt sich an den Spielen, und es ist mir nicht zu Ohren gekommen, dass sie andere Kinder schlägt. Worin genau besteht also die Zumutung?«
Unter ihrem Blick hob die Leiterin abwehrend die Hände. »Sie haben recht, das alles beherrscht Ihre Tochter sehr gut, darum geht es nicht …« Sie stockte und warf dann hektische Blicke zwischen Mutter und Kind hin und her, als überlege sie, wie sie die nächsten Sätze formulieren sollte. »Wissen Sie, es ist vielmehr so, dass Babel einen sehr lebhaften Drang hat, Geschichten zu erzählen. Sie tut es praktisch pausenlos. Während der Mahlzeiten und auch in der Spielzeit. Sie sitzt irgendwo und beginnt, den anderen Kindern Märchen zu erzählen.«
»Sie wollen mir also sagen, dass meine Tochter ein Problem für Ihre Einrichtung ist, weil sie eine lebhafte Phantasie besitzt?«
»Nun, das wäre wohl eher wünschenswert – nein, das Problem ist die Art von Geschichten, die Babel erzählt.« Jetzt ruhte der Blick der Frau ausschließlich auf Maria, und es lag etwas wie leise Anklage darin. Die Haltung der Erzieherin drückte Abneigung aus.
Dieses Verhalten überraschte Maria nicht; die Leute hegten häufig gewisse Vorbehalte gegen sie. Wie Tiere, die instinktiv Gefahr witterten, hielten sie Abstand zu ihr und konnten dabei nicht einmal genau sagen, was sie eigentlich störte. Maria sah aus wie viele Frauen dieser Zeit. Die dunkelblonden Haare hingen ihr weit über die Schultern hinab und wurden durch ein gestricktes Band zusammengehalten. Sie trug eine weiße, schulterfreie Bluse und eine dieser Schlaghosen, die gerade in Mode waren. An den Füßen mit den rot lackierten Nägeln saßen weiße Plateauschuhe, deren Riemchen sich um die gebräunten Knöchel schlangen. Maria war eine schöne Frau, aber das war nicht der Grund, warum die Leute ihr misstrauische Blicke zuwarfen. Sie spürten, dass etwas an ihr anders war, denn alle Wesen fühlten die Magie – aber nur wenige konnten sie auch beeinflussen. Die meisten Menschen wussten ja nicht einmal, was sie da eigentlich wahrnahmen, weil es ihnen nie jemand gesagt hatte. Wenn sie mitten auf einer belebten Hauptstraße plötzlich ein kalter Schauer überlief und sich die Härchen an ihren Armen aufstellten, hielten sie es für Intuition und Instinkt. Dabei lief vielleicht gerade eine Hexe an ihnen vorbei und wirkte einen Zauber.
»Sehen Sie, Babel erzählt sehr düstere Märchen, es kommen fürchterliche Kreaturen darin vor, Dämonen, wie sie es nennt … und Hexen.« Die Frau nickte mehrfach und wartete offenbar auf eine Reaktion, aber Maria zuckte nur unbeeindruckt mit den Schultern. »Das Problem ist auch, dass sich viele Kinder vor ihr fürchten. Es gibt einige, die unter Schlafstörungen leiden, seit sie Babels Schauergeschichten gehört haben. Wir bekommen deswegen schon Ärger mit den anderen Eltern, das müssen Sie verstehen.« Der Ton war schärfer geworden, offensichtlich zeigte Maria zu wenig Reue über das merkwürdige Verhalten ihrer Tochter. »Es ist ja gut und schön, wenn Kinder Phantasie besitzen, aber es geht doch nun wirklich nicht, dass Babel den anderen erzählt, wie man einen Liebestrank braut und dazu das Blut von Küken verwendet!«
»Genau genommen benötigt man ihre Leber, aber was sind schon Details«, erwiderte Maria und lächelte die Kindergartenleiterin an, die erbost die Augen zusammenkniff.
»Verstehen Sie mich nicht falsch, ich möchte
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