Babylons letzter Wächter (German Edition)
seinen Ohren dröhnte das Rattern der Speichen. Die Kugel verlangsamte ihre rasante Fahrt. In der Zielgeraden bekam sie ein ungewöhnliches Eigenleben. Fast, als hätte sie eine eigene Seele. Nathans Pupillen weiteten sich wie die eines Junkies, der sich den Stoff in die Blutbahn gedrückt hatte. Und er wollte verdammt sein, aber er hatte eindeutig eine Erektion.
„Doppel-Null. Das Haus gewinnt.“
„ Das kann nicht sein.“
„ Mein Herr, es ist so.“
„ Sehen sie, das Rad bewegt sich noch. Vielleicht springt die Kugel weiter.“
„ Mein Herr, sie stören das Spiel. Bitte verlassen sie das Roulette. Ansonsten sehe ich mich gezwungen, den Sicherheitsdienst zu rufen.“
Nathan stand auf. Es gab nichts mehr für ihn zu tun. Er stolperte über seinen leeren Aktenkoffer, den er neben seinen Stuhl gestellt hatte. Niemand lachte, als er zu Boden ging. Das Casino bewahrte jedem Spieler seine Würde. Denn die Würde war das letzte Hemd, das man keinem Menschen ausziehen konnte. Nathan klopfte sich die Fusseln des dicken Samtteppichs vom Anzug und trat auf die Straße. Das grelle Sonnenlicht traf ihn wie ein Schlag.
Brot und Spiele
Als Francis Keller sein Examen machte, standen ihm viele Türen offen. Er hätte freier Anwalt werden können in dem Haifischbecken, das sich von der Stadt nährte. Es wäre ein Leichtes gewesen, dort satt zu werden. Doch Francis drängte es in die neuen Berufszweige, die den fertigen Jurastudenten seit diesem Jahr offen standen. So wie eigentlich alles gesellschaftliche Leben verlagerten sich auch Gerichtsprozesse ins Fernsehen. Was ihn daran so reizte, war der demokratische Ausdruck darin. Volkes Wille zur besten Sendezeit. So war er auch nicht sonderlich erstaunt, als er seinen Eid auf das aktuelle Fernsehprogramm schwor.
Die eigentliche Strafkammer wurde durch die Masse der Kameras regelrecht eingeengt. Die Angeklagten sollten durch die holzvertäfelten Wände eingeschüchtert werden. Keller ließ sich von soviel bedeutungsschwerer Architektur nicht aus der Ruhe bringen. Er war hart wie Stahl. Nach der langen Dürrezeit staubtrockener Akten war er endlich in der Realität angekommen. Seine Erfahrungen beriefen sich auf endlos dicke Wälzer, Nachschlagewerke und Enzyklopädien der Rechtsgeschichte. Aus Fakten wurden Verbrechen und aus Tätern Menschen. Unter seinen Fingern erwachten die Figuren auf dem Papier zum Leben.
Es gab nicht eine Propaganda. So wie es nicht nur eine Wahrheit gab. Nach Sendeschluss fühlte sich Keller manchmal wie ein Praktikant, doch das Gefühl wich seinem üblichen Selbstvertrauen. Als Nebenfach hatte er Moderation belegt und mit einem Notendurchschnitt von 1,1 abgeschlossen. Er war für die Kandidaten (Angeklagten) gerüstet.
*
„Mister Silva, stimmt es, dass sie am Abend des dreiundzwanzigsten April gegen dreiundzwanzig Uhr in der Midnight Bar waren?“
„ Korrekt.“
„ Laut ihrer Aussage ihre Stammbar.“
„ Ebenfalls richtig.“
„ Wie kommt es dann, dass keiner der Gäste sich an sie erinnern kann?“
„ Nun, in feuchtfröhlicher Runde mag das Gedächtnis etwas nachlassen. Tatsache ist, dass ich an diesem Abend auf einen kleinen Umtrunk vorbeischaute.“
„ Laut dem Besitzer der Bar war der Laden brechend voll. Circa fünfzig Menschen amüsierten sich auf der Skylineparty. Und die sollen alle so betrunken gewesen sein, dass sie sich nicht mehr an sie erinnern können? Mir scheint eher, der Alkohol hat ihr Gedächtnis vernebelt.“
„ Unter den Beweisstücken befindet sich auch meine Getränkekarte, wie sie wissen.“
„ Ja richtig, das einzige Indiz, auf das sie ihr Alibi aufbauen. Schade nur, dass das Labor seine Echtheit nicht bestätigen konnte.“
„ Nicht?“
„ Ach. hat sie ihr Anwalt nicht darüber unterrichtet?“
„ Nein. Ich hatte keine Zweifel. Wer sollte denn Interesse daran haben, falsche Getränkebons zu verteilen?“
„ Dann hören sie mir mal gut zu, Mister Silva. Für mich sieht die Lage wie folgt aus: Sie waren nie in der Midnight Bar. Dafür aber im Helter Skelter, wo sie Jayden Cox trafen. Sie beauftragten ihn mit der Tötung ihrer Ehefrau. Danach verweilten sie in der Bar, bis er den Auftrag ausgeführt hatte.“
„ Schön, das ist ihre Sicht der Dinge. Ich kann an dieser Stelle nur wiederholen, dass ich Herrn Cox nicht kenne.“
„ Kennen sie den Bankautomaten in der Moore Street?“
„ Kann sein. Es gibt Abertausende Bankautomaten in der Stadt. Kann sein, dass ich an ihm
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