Bädersterben: Kriminalroman
ein junges polnisches Flittchen verliebt, und das Letzte, was ich vor zehn Jahren von ihm gesehen habe, war die Scheidungsurkunde.«
Das wiederum beruhigte Stuhr, denn es schienen bei ihr keine Gefühle mehr für ihn vorhanden zu sein.
Sie zog ihn ein wenig näher an sich heran. »Dabei bin ich doch eigentlich die kleine Jenny, die einen einzigen Menschen sucht, der nur sie liebt. Könntest du mich lieben, Helge?«
Natürlich hätte Helge können, aber er hatte wenig Lust, Nachfolger von Duckstein und anderen Immobilienfossilien zu werden. So bestellte er noch einen Drink und schaute schon einmal demonstrativ auf die Uhr, um ihr zu verstehen zu geben, dass er an der Bar heute nicht sterben wollte.
Jenny deutete das auf ihre Art. Sie zog Stuhr kraftvoll mitsamt dem Barhocker dicht an sich heran. »Angenommene Namen sind Schall und Rauch. Frage mich doch einmal nach meinem Geburtsnamen. Oder interessiere ich dich überhaupt nicht?«
Das waren Dinge, die Stuhr eigentlich nicht so prickelnd fand. Bei ihrem Vornamen würde sie vermutlich Jensen oder Siemsen heißen.
Die Bartenderin stellte jetzt ein wenig aufdringlich ein Glas Salzstangen zwischen die Drinks. Vermutlich wollte sie den Durst der beiden steigern, doch Jenny schob das Glas beiseite. Dann senkten sich bereits ihre unendlich weichen Lippen unerwartet auf seinen Mund. Der Schauer, der dabei seinen Rücken herunterlief, traf ihn mehr als unerwartet. Nach dem Kuss ließ sie seine Hand nicht mehr los und behielt ihre Mädchenhaftigkeit bei. »Ich mag dich sehr, Helge. Mein Geburtsname ist Muschelfang. Jenny Muschelfang. Du hast doch keine Angst vor mir, oder?« Wieder begann sie, mit ihm zu schmusen. Stuhr konnte sich nicht entsinnen, jemals in seinem Leben so umgeschwenkt zu sein. War er etwa schon verliebt?
Egal, wenn er sie näher kennenlernen wollte, dann musste er jetzt in die Offensive gehen. Er schaute ihr tief in die Augen. »Jenny Muschelfang, wollen wir nicht noch einmal gemeinsam romantisch über die Seebrücke auf den Sand gehen und die Sterne hinter dem Mond funkeln sehen?«
Sie lächelte ihn liebevoll an. »Ja, Helge, das hätte schon etwas. Aber eigentlich sollten wir uns besser auf eine gemeinsame Koje einigen und sehen, wie lange wir es gemeinsam zusammen aushalten können.«
Diesen Vorschlag fand Stuhr noch besser. Er nickte, denn mit Jenny Muschelfang würde er es theoretisch ewig aushalten können. Sie war eine tolle Frau, und er küsste sie zärtlich zurück, obwohl ihm schwante, dass er im Begriff war, alle seine Freiheiten einzubüßen. Er zeigte der Bartenderin seine Zimmernummer wegen der Abrechnung, dann hakte er Jenny in seinen Arm ein und führte sie aus der Bar durch die Rezeption in den ersten Stock.
Er zeigte auf seine Zimmertür, aber Jenny steckte ihre Plastikkarte in das Schloss ihrer eigenen Tür und öffnete sie. Stuhr folgte ihr zur Terrasse. Als er seine Hände zärtlich auf ihre Schultern legte, warnte sie ihn vor dem Ausblick auf die Nachbarterrasse. »Nicht hingucken, Helge. Da wohnt ein böses, böses Wesen. Groß und unnahbar. Den würde ich niemals bei mir hineinlassen.«
»Niemals?«, fragte Stuhr ungläubig und blickte jetzt aus einer völlig anderen Perspektive auf sein Feriendomizil. Ja, vielleicht hatte Jenny sogar recht, denn wenn man ihn nicht kannte, konnte man schon denken, dass er nicht ein fühlendes Wesen, sondern eher ein Holzklotz war.
Jenny überspielte diesen Moment mit Musik, die sie aufgelegt hatte. Rosenstolz. ›Liebe ist alles.‹ Stuhr liebte die Musik, und sie tanzten eng zusammen vor der Nachtkulisse auf dem Sand. Es war alles nur schön mit ihr. Sie flüsterte ihm ins Ohr. »Wir bleiben doch heute Nacht zusammen, oder?«
Er überlegte nur kurz, ob er nicht besser eine letzte mögliche Flucht auf seine eigene Terrasse starten sollte. Aber Jenny Muschelfang machte ihrem Geburtsnamen alle Ehre. Sie glitt in ihr Bett und verlangte nach ihm. »Arm, Helge!« Was blieb ihm schon übrig, als zu Jenny Muschelfang ins Bett zu gleiten und sie zu umarmen? Sie küssten sich heftig, doch irgendwann begann sie, sich in seinem Arm einzukuscheln. Ihre Atemzüge wurden zunehmend gleichmäßig.
Er konnte sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben so schön und beruhigt eingeschlafen zu sein.
28 Keine Wahl
Dreesen war an diesem Donnerstagmorgen mehr als gepestet. Unglaubliche 16,4 Stunden waren noch auf der Stempelkarte bis zum Wochenende zu überwinden. Er hatte sich natürlich wie immer einen
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