Bär, Otter und der Junge (German Edition)
vielleicht reimen sollte, denn in der Schule nahmen sie gerade Gedichte durch).
Während ich also meinen kleinen Bruder durch die Gegend fuhr und die Nacht seiner Träume, in der ich Otter den Schlüssel zu meiner Seele geben würde (seine Worte, nicht meine), plante, verfiel ich still und leise in Panik und verfasste Gedichte. Normalerweise bin ich tatsächlich recht geschickt darin, Gedichte oder Texte zu Liedern zu schreiben, die ich niemals singen werde, aber das Zeug hier war einfach grauenhaft. Zum Beispiel:
Ich liebe Dich
Du liebst mich
Gott sei Dank
Ich bin glücklich
Und Tys persönlicher Favorit (bei dem er geholfen hat):
Otter! Otter! Otter!
Bring keine Kühe zum Schafotter!
Ich liebe Dich und ich weiß,
Ich hätte es früher bringen sollen auf den Tisch,
Aber Du hast ihn nicht gekauft, den Bio-Thunfisch!
Ty hat mich gefragt, ob ich die versteckte Botschaft in seinem Gedicht erkannt habe. Ich sagte ihm, sie sei klar und deutlich.
So verfiel ich also in Panik und plante die am sorgfältigsten ausgearbeitete und wundervoll grauenhafteste Nacht meines Lebens. Ich dachte, ich hätte genug Zeit, alles zu erledigen, was getan werden musste. Aber dann war es schon Mittwoch und ich lieferte Ty für seinen letzten Tag in der Schule ab. Dann war es schon Mittwoch Nachmittag und ich holte Ty von der Schule ab und brachte ihn zu den Herreras. Die gesamte Zeit zwischen dem Zur-Schule-bringen, und dem Von-der-Schule-abholen ist völlig vernebelt. Bevor er jedoch ausstieg, ließ er mich die Checkliste durchgehen, und erst nachdem er zufrieden war, dass ich mich an alles erinnerte (und nachdem ich ihm dreimal erklärt habe, dass ich unter keinen Umständen sein Gedicht benutzen würde), umarmte er mich und flüsterte mir ins Ohr, dass er mich lieb hat, und dass er mich am Sonntag sehen würde, wenn er nach Hause käme. Um dir eine Idee davon zu geben, wie hinüber ich war; ich habe ihn lediglich zweimal versprechen lassen, dass er mich anruft, um mir zu sagen, dass er okay ist. Okay, zweimal während der Autofahrt. Eigentlich habe ich es ihm viermal gesagt. Vor dem Haus seines Freundes. Aber komm schon, ich kann ein Häufchen Elend und trotzdem gleichzeitig ein guter großer Bruder sein.
Ich fuhr zurück zur Wohnung und wanderte dort weitere zwei Stunden ziellos durch die Zimmer. Danach hatte ich keine andere Wahl, als alles ins Auto zu laden und runter zum Strand zu fahren. Ich schnappte mir Tys Gedicht vom Küchentresen, nur für den Fall. Die Fahrt dauerte lediglich zehn Minuten, aber es waren die längsten zehn Minuten meines Lebens. Ich brauchte fünfzehn Minuten, um das Auto zu entladen, aber es waren die längsten fünfzehn Minuten meines Lebens. Ich brauchte zwanzig Minuten, um alles vorzubereiten, aber es waren die kürzesten zwanzig Minuten meines Lebens. Zu meinem Entsetzen. Und dann war es neunzehn Uhr fünfundvierzig und ich zog mich schnell im Auto um und besprühte mich mit einem Aftershave, das Ty ausgesucht hatte. Ich begann mit einem Sprühstoß, hatte aber nicht den Eindruck, dass es reichte und endete versehentlich bei sechs weiteren.
Ich roch wie eine Kaufhaustragödie, als ich zurück zum Strand ging, um zu warten. Als ich oben auf dem kleinen Hügel ankam, auf dem ich den Tisch gedeckt hatte, funkelten gerade die letzten Strahlen der Sonne über den Ozean und als ich hinunterblickte, sah ich, wie das weiße Tischtuch sanft in der Brise wehte, wie das Kerzenlicht flackerte und mir die Musik leise entgegenwehte, und plötzlich verstand ich, warum Ty ein Genie ist. Es war perfekt. Alles hier war einfach nur perfekt. Auf eine Reality-Dating-Show-Weise.
Ich wartete unten am Strand und um Punkt acht Uhr hörte ich ein Auto vorfahren. Ich nahm mir eine der Blumen und stellte mich vor den Tisch, und als ich auf den Hügel sah, sah ich Otter dort ankommen, wo ich selbst noch Momente zuvor gestanden hatte. Er trug ebenfalls einen Smoking und ich grinste amüsiert, denn auch er trug - nach Anweisung - keine Fliege und keinen Kummerbund. Er sah zu mir hinunter, und sein Lächeln war so breit, dass es beinahe die Welt entzwei brach. Er kam langsam den Hügel hinab auf mich zu, und ich verbeugte mich ein wenig (Tys Anweisung) und streckte ihm die Rose entgegen. Er lachte leise, nahm sie und küsste mich fest auf die Lippen, und es fühlte sich so gut an, dass mir plötzlich klar wurde, wie sehr ich ihn die letzten paar Tage vermisst hatte, und wie bereit ich dazu war, alles für ihn zu tun. Wenn
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