Bahners, Patrick
Hirten nicht die Bischöfe der
Kirche von England verdrängen sollten und deshalb mit anderen Bischofssitzen
ausgestattet wurden. Auf dem Niveau dieser amtlichen Agitation gegen
«päpstliche Aggressionen» bewegt sich die Islamkritik, wenn sie die
Selbstorganisation frommer Muslime gemäß den Spielräumen des deutschen
Religionsverfassungsrechts skandalisiert. In der weltlichen Öffentlichkeit mag
man dankbar sein für Hinweise auf dubiose Hintermänner der Verbände, die auf
staatliche Anerkennung nach dem Muster der Kirchen drängen. Aber wenn Neda
Kelek die religiöse Versammlungsfreiheit auf Moscheen beschränken will, in
denen ein spiritueller Glaube praktiziert wird, dann spricht sie aus, dass sie
Vereinigungen, die die vom Grundgesetzgeber etwa zum Zweck der Organisation des
Religionsunterrichts erwarteten verbindlichen Auskünfte über die islamische
Glaubenslehre würden erteilen wollen, als Verschwörungen zum Schaden der
Freiheit von Gläubigen und Ungläubigen ablehnen müsste.
Der Bundespräsident in Ankara
Am 19. Oktober 2010 sprach Bundespräsident Wulff in Ankara
vor dem türkischen Parlament. Drei Tage später erschien im Feuilleton der
F.A.Z. ein Verriss der Rede von Neda Kelek. Ihr hatte schon nicht gefallen, wie
der Gast ans Rednerpult getreten war, «mit vorsichtigen Schritten», den Blick
«stur geradeaus gerichtet». An der Wortwahl hatte sie so viel auszusetzen, als
wäre sie Jurorin bei einer Casting-Show für Nachwuchsredner. Wulff hatte die Eingliederungsprobleme
der Einwanderer zum Thema gemacht und als erstes Übel vor «Kriminalitätsraten,
Machogehabe, Bildungs- und Leistungsverweigerung» das «Verharren in
Staatshilfe» erwähnt. Neda Kelek warf ihm «Verharmlosung» vor. «Wer
Sozialbetrug als verniedlicht, der kann nicht
ernsthaft davon ausgehen, dass die Aufforderung, dass sich Migranten an die
geltenden Regeln halten müssen, durchgesetzt werden könnte.» Forderte Frau
Kelek, dass sich der Staatsgast der Krawallsprache eines Talkshowgastes hätte
bedienen sollen? Worüber soll man sich mehr wundern? Darüber, dass sie die
Abhängigkeit türkischer Einwanderer von mutmaßlich legal bezogener
Staatsunterstützung mit einem Straftatbestand gleichsetzte, als wäre Betrug
nicht noch etwas anderes als ein verwerflicher Mangel an bürgerlicher
Selbständigkeit? Oder darüber, dass sie vom Bundespräsidenten provozierenden
Klartext in dem Stil verlangte, für den nun gerade Ministerpräsident Erdogan
berüchtigt ist?
Dass das deutsche Staatsoberhaupt vor den türkischen
Abgeordneten soziale Schwierigkeiten türkischer Staatsbürger oder sogar ehemaliger
türkischer Staatsbürger in Deutschland ansprach, war nach allen diplomatischen
Gepflogenheiten nichts Selbstverständliches. Die Möglichkeiten der Abgeordneten
zur Einflussnahme auf das Alltagsverhalten ihrer ausgewanderten Landsleute
sind begrenzt. Dass Wulff das Thema trotzdem ansprach und damit rechnen durfte,
Gehör zu finden - nun, Frau Kelek wird es nicht gefallen, aber das ist wohl ein
Zeichen des wechselseitigen Respekts. Ein Wort hätte die Kritikerin ersatzlos
gestrichen, wenn ihr das Bundespräsidialamt die Rede vorgelegt hätte: das Wort
«Christentum». Wulff hatte seinen Kritikern demonstriert, dass er seinen Satz,
der Islam gehöre zu Deutschland, nicht zurückzunehmen gedachte, indem er das
Pendant in den Saal der türkischen Nationalversammlung stellte: «Das
Christentum gehört zweifelsfrei zur Türkei.» Er sprach vom Islam und vom
Christentum, nicht nur von Muslimen und Christen, und hatte laut Frau Kelek
dadurch «der Rückkehr der Religion als Kategorie der Politik das Wort geredet».
Aber wie will man die Lage der Christen in der Türkei verbessern, wenn man vom
Christentum nicht sprechen darf? Sie müssen ja nicht das Recht zur individuellen
Pflege ihrer spirituellen Religiosität durch häusliches Bibelstudium einklagen,
sondern verlangen das Recht, in ihren Kirchen Gottesdienst zu feiern - die
Religionsfreiheit, die für den einzelnen nicht existiert, wenn sie nicht auch
ein Recht der Religionsgemeinschaft ist.
Rhetorisch fragte Neda Kelek im Sinne von Pascal Bruckner:
«Sind wir keine Deutschen, Türken, sondern zuerst Christen, Juden oder Muslime;
keine Bürger, sondern Gläubige oder Ungläubige?» Ein Christ müsste antworten:
Ja, ich bin zuerst Christ und dann Deutscher oder Türke. Denn als Christ bin
ich um meine ewige Seligkeit besorgt, als Bürger kümmere ich
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