Bahners, Patrick
der
Bischof von Limburg eine rhetorische Frage im Stil des von Benedikt XVI. in Regensburg
zitierten byzantinischen Kaisers: «Was könnte der Islam denn beitragen, was das
Christentum und das Judentum nicht bereits geleistet haben?» Das fiel hinter
das Zweite Vaticanum zurück, das mit Hochachtung von den Muslimen gesprochen
hat, weil sie sich wie Abraham Mühe geben, «sich auch Gottes verborgenen
Ratschlüssen mit ganzer Seele zu unterwerfen». Die Konzilserklärung «Nostra
Aetate» wünscht sich das gemeinsame Eintreten von Christen und Muslimen «für
Schutz und Förderung der sozialen Gerechtigkeit, der sittlichen Güter und nicht
zuletzt des Friedens und der Freiheit für alle Menschen» und rechnet
offenkundig damit, dass dabei auch die muslimische Frömmigkeit der
vorbehaltlosen Unterwerfung unter den Willen Gottes als Ferment nützlich sein
kann.
Dass Gottes Ratschlüsse verborgen sind, lässt sich in die
Sprache der deutschen Kulturwissenschaft übersetzen, deren klassisches Thema
die Soziallehren der Religionsgemeinschaften sind: Moralische Einstellungen
lassen sich nicht aus Dogmen deduzieren - in der Evolution religiöser
Mentalitäten muss mit Überraschungen gerechnet werden. Der Calvinismus setzte
eine ungeheure Dynamik der Selbstgestaltung des sozialen Lebens frei, obwohl
oder weil Calvin einen fast islamischen Begriff der tyrannischen Allmacht
Gottes verkündet hatte. Die Leitkulturdebatte krankt an einem eklatanten
Phantasiemangel in der Frage, wie man sich die Verwandlung religiöser Gewissheiten
in kulturell ausstrahlende und fortwirkende Werte eigentlich vorzustellen hat.
In diesem Punkt werden auch die Politiker konkret werden müssen. Sie müssen
Aussichten eröffnen und Beispiele nennen, wenn Wolfgang Schäubles Satz vom
Islam als Teil Deutschlands seine dialektische Überzeugungskraft entfalten
soll. Es war die Schwäche von Wulffs Rede, dass er es bei der Feststellung der
Zugehörigkeit beließ. Dabei sollte es gar nicht so schwer sein, positive
soziale Effekte muslimischer Werte wie der Gottesfurcht und der geregelten
Lebensführung anzudeuten.
Als Wulff im November 2010 Christopher
Clark, dem aus Sydney gebürtigen und in Cambridge lehrenden Geschichtsschreiber
Preußens, in München den Preis des Historischen Kollegs überreichte, sprach er
über die preußische Toleranz. Vom Grundgesetz führe eine gerade Linie zurück
zum Artikel 11 der Preußischen Verfassung vom 20. Dezember
1848: «Der Genuss der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte ist
unabhängig von dem religiösen Bekenntnisse.» Der preußische Staat der
Reaktionsära sei schon weiter gewesen als Teile des liberalen Publikums unserer
Zeit. Wulff ging auch auf einen Artikel ein, der am Tag der Preis Verleihung in
der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» erschienen war. Rainer Hermann, lange
Jahre Korrespondent in Istanbul, erörterte dort, aus welchen Quellen der
Volksfrömmigkeit und Theologie die Soziale Marktwirtschaft in der Türkei
schöpfen kann. Für das anatolische Wirtschaftswunder, dem die AKP von Recep
Tayyip Erdogan und Abdullah Gül ihre Schubkraft verdankt, hat sich die Wendung
vom muslimischen Calvinismus eingebürgert.
In einem Leserbrief zur Wulff-Rede machte die
F.A.Z.-Leserin Carmen Dallendörfer aus Hankensbüttel darauf aufmerksam, dass
Wertunterschiede quer zu Konfessions- und Kulturgrenzen verlaufen können. Die
Muslime fühlten sich einem «Wertesystem» verpflichtet, «in dem der Glaube an Gott
und ethische Normen eine hohe Priorität haben», und sähen sich nun einer
offenbar dem Konsum und dem Körperkult verfallenen Kultur gegenüber. «Bedeutet
Integration, dass muslimische Kinder an Partys teilnehmen, Alkohol trinken,
Miniröcke tragen und frühzeitige sexuelle Beziehungen eingehen? Sind das
unsere christlichen Werte> beziehungsweise die Vorstellung von Freiheit?»
Nach dem Verzicht auf einen Gottesbezug in der EU-Verfassung müsse «die
plötzliche Betonung des Christlichen» überraschen. «In einem wirklich an
christlichen Werten orientierten Land hätten Muslime weniger Schwierigkeiten
sich zu integrieren, als es jetzt den Anschein hat.»
Der Glaube an den Staat
Den Beschwörungen einer christlichen Leitkultur kommt die
Islamkritik scheinbar entgegen, wenn sie die Muslime belehrt, sie hätten sich
den hiesigen Sitten und Normen anzupassen, und sich dabei als islamische
Selbstkritik nach christlichem Vorbild gibt, als Avantgarde einer muslimischen
Reformation. Aber für
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