Ballnacht in Colston Hall
sei der Anlass dafür gewesen, sagte jeder im Ort – Kummer und die Tatsache, dass der Earl in seiner Sterbestunde nach Mrs Fostyn geschickt habe und nicht nach seiner Frau.
Lydia war um ihrer Mutter willen wütend über das Gerede und wollte allen Leuten mitteilen, was sie vom Geisteszustand der Countess wusste. Die Mutter untersagte es ihr jedoch. Man solle doch dem Earl und seiner Gemahlin gestatten, in Frieden zu ruhen, meinte sie.
Und so gab es denn zwei Bestattungen, und auch danach hörten die Vermutungen und Gerüchte über den neuen Earl und das mögliche Schicksal des Herrenhauses, sofern der Erbe nicht gefunden würde, immer noch nicht auf. In keiner Familie wurde jedoch mehr darüber nachgedacht als bei den Fostyns, denn sie lebten ja nur durch die Gunst des Verstorbenen in dem Witwensitz. Wohin sollten sie gehen, wenn man sie hinauswarf? Und wovon sollten sie dann leben?
“Wir müssen den Kopf oben behalten und so tun, als sei alles in Ordnung”, pflegte Mrs Fostyn dann immer zu sagen. Aber Lydia hegte berechtigte Zweifel, ob all das boshafte Geschwätz wirklich bis an die Ohren der Mutter gedrungen war. “Lasst uns die Kleider fertig machen”, waren dann meist die letzten Worte. “Wenn das Siegesfest abgesagt werden sollte, wird es bestimmt andere Bälle geben.”
Der immer noch in Aussicht stehende Ball war dann auch der Grund dafür, dass sich Lydia und Mrs Fostyn einen Monat nach dem Leichenbegängnis auf den Weg nach Chelmsford gemacht hatten, um rosafarbenes Samtband für Annabelles Ballkleid und Zierborte für Lydias Brokat zu kaufen, derweil die Mutter in der Stadt ein paar gute alte Bekannte aufsuchen wollte.
Sie trennten sich auf der Hauptstraße, nachdem sie die öffentliche Leihbibliothek als Treffpunkt vereinbart hatten. “Schau du nur nach den Bändern”, hatte die Mutter gesagt. “Ich finde dich dann schon bei deinen geliebten Büchern.”
Bekümmert blickte Lydia der Mutter nach und wünschte sich dabei sehnlichst, ihr mehr Vertrauen schenken zu können. Aber seit jenem Gespräch über eine mögliche Heirat fühlte sie sich mit ihren Problemen nicht mehr richtig ernst genommen, und nach dem Tod des Earls hatte sich die Mutter in ihrer Sorge um die Zukunft der Familie gar gänzlich vor ihr verschlossen. Seufzend gestand sich Lydia ein, dass in der Tat die einzige Hilfe, die sie der Mutter dabei geben konnte, eine günstige Heirat war.
Doch dann schüttelte sie fürs Erste die trüben Gedanken ab und betrat ein winziges Kurzwarengeschäft, wo sie auch sofort das passende Band für Annabelle fand. Eine goldfarbene Zierborte war jedoch nicht am Lager. Lydia versuchte es noch in zwei anderen einschlägigen Läden, und als sie auch das letzte Geschäft ohne Ergebnis verließ, musste sie zu ihrer misslichen Überraschung feststellen, dass es begonnen hatte, heftig zu regnen.
Ratlos blieb sie in einem Eingangstor stehen, um ein Ende des Regenschauers abzuwarten. Kurz darauf gesellte sich ein junger Mann mit einem Regenschirm dazu. Der Torbogen erwies sich aber als zu schmal, um auf die Dauer vor der Nässe zu schützen, und schon bald fielen dicke Tropfen auf Lydias Schultern.
“Gestattet Ihr”, sagte der junge Mann und hielt den Schirm über sie. “Er ist groß genug für uns beide, wenn wir ein wenig zusammenrücken.”
“Besten Dank”, erwiderte Lydia steif, machte jedoch keine Anstalten, näher heranzutreten. Für die Bewahrung ihrer Gemütsruhe stand der Fremde ohnehin schon viel zu nahe bei ihr.
Der erste Eindruck, den sie von ihm hatte, war geprägt von seiner ungewöhnlichen Größe und der Breite seiner Schultern. Der zweite ging von der Eleganz seiner Kleidung aus. Er trug einen Rock aus feinem, mit roter Seide gefüttertem Tuch. Der Kragen und die Ärmelaufschläge waren ebenfalls mit Seide in derselben Farbe unterlegt und mit Gold- und Silberfäden bestickt. Es musste ein ziemlich teures Kleidungsstück sein, doch der junge Mann trug es mit einer beeindruckenden Selbstverständlichkeit und kümmerte sich nicht darum, ob es Wasserflecke vom Regen bekam. Vorsichtig hob sie den Kopf, um sein Gesicht betrachten zu können, und war überrascht, dass auch der Fremde sie im selben Augenblick so eindringlich musterte, als wolle er jede Einzelheit im Gedächtnis behalten.
Rasch versuchte sie, sich seine Züge einzuprägen. Seine Nase war lang und gerade, seine Haut wettergebräunt, und winzige Falten um die Mundwinkel zeigten, dass er anscheinend gern lachte. Er trug
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