Balthazar: Roman (German Edition)
nur in ihren Albträumen gegeben hatte. Diese … geistige Fähigkeit, oder wie auch immer man es nennen mochte, war zu einem Teil ihrer selbst geworden.
Es war nicht so, dass sie vor diesem Winter an nichts Übernatürliches geglaubt hätte; das Zuhause, in dem sie aufgewachsen war, war von Geistern heimgesucht worden. Der Geist auf ihrem Dachboden war für sie stets ebenso real gewesen wie ihr großer Bruder Dakota; man konnte es ihm ganz genauso zutrauen, dass er ihr Lieblingsspielzeug versteckte, nur um sie ein bisschen zu ärgern. Sie hatte sich nie vor dem Geistermädchen im Stockwerk über ihr gefürchtet; denn irgendwie war ihr klar gewesen, dass es jung war und nur mit ihr spielen wollte. Seine Streiche waren lustig und harmlos; es nahm zum Beispiel heimlich Skyes rosafarbene Socken und versteckte sie in Dakotas Kommode, oder sie klopfte an das Bettgestell, wenn Skye kurz vor dem Einschlafen war. Dakota hatte den Geist schon vor ihr »kennengelernt«, und er war es gewesen, der ihr versichert hatte, sie bräuchte sich nicht zu fürchten; denn Geister seien vermutlich ebenso natürlich wie Regen, Sonnenschein oder sonst irgendetwas Reales. Und so hatte sie niemals daran gezweifelt, dass etwas jenseits der Welt existierte, die jeder mit den Augen sehen konnte.
Trotzdem hatte Skye niemals vermutet, wie viel näher das Übernatürliche rücken und als wie viel gefährlicher es sich erweisen könnte.
Seit ihrem ersten Highschooljahr war sie Schülerin der Evernight-Akademie gewesen, die, soweit sie wusste, eines von mehreren Elite-Internaten in den Bergen von Massachusetts war. Sicherlich gab es da einige seltsame Regeln, und einige ihrer Mitschüler kamen ihr sehr viel älter vor, als sie es den Jahren nach waren, aber das war nicht allzu ungewöhnlich … hatte sie immer geglaubt.
Nein, sie hatte nicht vermutet, dass in Evernight etwas nicht stimmte. Als ihr guter Freund Lucas sie warnte, dass es dort für sie gefährlich sein würde, weil es sich bei Evernight um eine Schule für Vampire handelte, hatte sie geglaubt, er wolle sie nur aufziehen.
Bis dieser verrückte Vampirkrieg ausgebrochen war.
Eb stupste sie mit dem Kopf an, als ob er sie ins Hier und Jetzt zurückholen wollte. Skye entschied, dass er recht hatte. Nichts half ihr so sehr wie das Reiten.
Sie suchte im Schnee nach sicherem Stand, ehe sie einen Fuß in den Steigbügel steckte und sich in den Sattel hievte. Eb wartete reglos, bis sie bereit war. Er gehörte ihr, seit sie als Zwölfjährige ihren Eltern verkündet hatte, sie wolle unbedingt ein schwarzes Pferd mit einer weißen Blesse haben.
Das ist albern , hatte Dakota gesagt. Er war damals sechzehn und ihr in einer empörenden Weise überlegen gewesen, die sie ganz krank machte, aber gleichzeitig war er derjenige gewesen, den sie mehr als jeden anderen beeindrucken wollte. Man sucht sich ein Pferd nicht nach der Farbe aus. Das ist doch nicht wie bei deinen Sammelfigure n. Aber er hatte dabei gelächelt, und sie hatte ihm sofort verziehen … Doch nein, sie würde jetzt nicht über Dakota nachdenken.
Nun gut, sie war albern gewesen. Damals hatte sie noch nicht gewusst, worauf man bei einem Pferd achten musste: auf Verlässlichkeit, Ausgeglichenheit und auf die Fähigkeit, die Person auf dem Rücken besser zu kennen, als es je ein anderer Mensch können oder wollen würde. Eb erfüllte all diese Kriterien, und er hatte einen weißen Fleck.
Ich sollte mich beeilen, falls Mom oder Dad einen Kontrollanruf machen , dachte sie. Selbst in ihren eigenen Ohren klangen die Worte hohl. Ihre Eltern waren in Albany und arbeiteten hart. Wahrscheinlich lag das daran, dass ihre anspruchsvollen Tätigkeiten ihnen das abverlangten – was auf jeden Fall stimmte. Skye wusste das. Aber sie wusste auch, dass sich die beiden im letzten Jahr noch mehr in die Arbeit gestürzt hatten, weil auch sie nicht über Dakota nachgrübeln wollten. Skye war lange nicht aufgefallen, wie weit sie es hatten kommen lassen, bis sie vor fünf Wochen aus dem Internat zurückgekehrt war. Ihr war auch nicht klar gewesen, wie sehr sie sich danach sehnen würde, ihre Eltern bei sich zu Hause zu haben.
Aber sie würden alle auf ihre eigene Weise bezüglich dieser Sache mit Dakota klarkommen müssen. Und wenn das für sie, Skye, bedeutete, dass sie alles mit sich allein würde ausmachen müssen, dann sollte es eben so sein.
Skye schnalzte mit der Zunge und drückte Eb sachte die Fersen in die Flanken. Seine Hufe knirschten im
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