Baltrumer Bitter (German Edition)
komme mit.«
Margot musste sich zwingen, nicht aufzustöhnen. Sie hatte keine
Lust, im Doppelpack ihre Runden zu drehen. Sie hatte über die Jahre ihren
eigenen Rhythmus entwickelt, den wollte sie beibehalten. So konnte sie am
besten abschalten.
»Mama, Mama, wir wollten doch ein Eis kaufen. Das hast du uns
versprochen«, jaulte Mark. Er griff nach einer Plastikschaufel und begann,
seine Mutter mit erstaunlicher Schnelligkeit mit Sand zu bewerfen.
Knut lachte aus vollem Hals. »Los, Kevin, mach mit«, rief er
vergnügt. Aber Kevin schüttelte trotzig den Kopf.
»Ich will lieber mit dir auf die Schaukel«, maulte er und
rammte mit seinem roten Minibagger den rechten großen Zeh seines Vaters.
Margot nutzte den allgemeinen Aufruhr. »Ich muss los«, rief sie
winkend zurück. »Kannst ja nachkommen.«
Sie zog ihre Sandalen aus und lief durch den warmen Sand bis
zum DLRG-Wachturm. Die Männer und Frauen in den orangefarbenen T-Shirts der
Wasserwacht hatten es sich gemütlich gemacht, ihre Baywatch-Bojen steckten neben
ihnen im Sand. Die Badeflagge war bereits eingeholt worden, die offizielle
Badezeit also eigentlich vorbei, aber das störte sie nicht. Genügend Wasser
umspielte die Stangen, die den Badebereich eingrenzten.
Sie legte ihre Sachen neben eines der großen Räder, auf denen
der hölzerne weiße Turm ruhte. Plötzlich sah sie aus den Augenwinkeln etwas Rundes,
Rotes auf sich zukommen, spürte einen Luftzug. Ein Ball flog knapp an ihrem
Kopf vorbei. Ein kleines Mädchen lief hinterher, schaute sie um Entschuldigung
bittend an.
Der Strand war voll von Menschen in allen Größen und Breiten,
angetan mit mehr oder weniger geschmackvollen Badeklamotten. Eine eindeutige
Modelinie konnte sie nicht ausmachen, doch ein Trend war eindeutig: je breiter
der Mensch, desto bunter und manchmal auch knapper das Tuch. Jeder Strandkorb
war besetzt, und an der Wasserkante waren unzählige Strandmuscheln in allen
Farben aufgestellt. Sie liebte das bunte Strandleben des Sommers, die Unbeschwertheit
der Urlauber und die Wärme des Sandes. Aber ebenso die ruhige Herbstzeit und
den Winter, wenn die Stürme über den weiten Sand fegten und Milliarden von
Sandkörnern vor sich herschoben. Jede Jahreszeit hatte ihr eigenes Gesicht. Und
im Sommer gehörte es einfach dazu, dass mal ein Ball vorbeigeflogen kam.
Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend überwand sie das
große Muschelfeld, dann gab es kein Hindernis mehr. Voller Wohlbehagen ließ sie
sich in das warme Wasser fallen.
*
Arnold Steenken schaute auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde,
dann war Feierabend für heute. Zumindest im Büro. Zu Hause warteten Hilda und
Margot, und seine Frau hatte meist noch den einen oder anderen Auftrag für ihn.
In einer Pension war immer irgendwas zu tun. Bis jetzt war der Tag ruhig
verlaufen. Sein Kollege lag mit einer Sommergrippe im Bett, so musste er sich
dessen Kommentare zum Weltgeschehen seit ein paar Tagen nicht mehr anhören. Sie
saßen zwar in getrennten Zimmern, doch die Bürotüren waren häufig geöffnet.
Daher bekam er einiges mit, was sich nebenan tat. Er hatte gedacht, er hätte
sich in all den Jahren an Georgs Sprüche gewöhnt. Aber jetzt merkte er, wie
angenehm die Arbeit ohne das Gerede aus dem Nebenzimmer war.
Trotzdem verstand er sich ganz gut mit Georg. Sie konnten sich
aufeinander verlassen. So war Georg immer einer der Ersten, die seine neuen
Schnapskreationen probieren mussten. Natürlich erst nach Feierabend.
Noch eine Viertelstunde. Er stand auf. Die Begonie schrie
förmlich nach Wasser. Er füllte die lila Plastikgießkanne, die er vor zwei
Jahrzehnten von seinem Vorgänger übernommen hatte, zur Hälfte. Ganz ging nicht,
seit sie mit der harten, spitzen Ecke eines Aktenordners Bekanntschaft gemacht
hatte, der aus dem obersten Regal gefallen war. Zum Glück hatte es nur die
Kanne erwischt.
Er schaute aus dem Fenster. Vor der Backstube war nichts
los. Waren wohl alle am Strand. Erst am späten Nachmittag, wenn es auf die
Abendessenzeit zuging, würden sich die Supermärkte wieder füllen.
»Mist!« Arnolds Hand zuckte zurück. Die Begonie stand unter
Wasser, ein kleines Rinnsal lief bereits über die Fensterbank. Er riss die
Kanne zur Seite, und das restliche Wasser schwappte auf den Drucker, der mit
seinem modernen Design einen erstaunlichen Kontrast zu dem Schreibtisch bildete
auf dem die Jahre ihre Spuren hinterlassen hatten.
Die rasch ausufernde Pfütze auf der Fensterbank kannte keinen
Halt mehr.
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