Banalverkehr - Roman
als zwei, die sich lieben . Vom ersten Atemzug an. Bedingungslos. Es muss sich nicht entwickeln, es ist da. Einfach so. Und ich beginne zu glauben, dass es das ist, was Liebe wirklich bedeuten sollte. Dieser Moment, er ist so überwältigend, vielleicht, weil er genau so ist, wie er ist, ohne dass die kopfeigene Unterhaltungsindustrie etwas dazuinszenieren, die Kulisse aufhübschen muss. Er ist zeitlupig, ohne dass ich einen Knopf drücken muss. Und das, genau das, wirft mich zu Boden, und ich bleibe liegen und ergebe mich diesem Moment. Es ist so überwältigend, dass ich, enttarnt in meinen ewigen Bemühungen, die Realitäten zu verdrehen, nach etwas suchen möchte, einem Haken, dem Haar in der Suppe. Ja, für einen Augenblick wünschte ich fast, ich hätte in den letzten drei Jahren nicht verdaut, um mich einfach vornüberzubeugen und diesen Moment, diesen Superlativ von Kitsch, in einem riesigen Schwall Anti-Kitsch duschen zu können. Damit er mehr nach Realität riecht. Aber auf diesen Timmy wird nicht gekotzt! Nicht von mir und auch nicht vom Leben.
»Er sieht aus wie du als Baby«, sagt Mama und sie hat recht. Von Edo bleibt nichts übrig, als hätte Timmy nicht gewusst, ob er nach allem, was passiert ist, tatsächlich noch einen Papa haben wird, dem man eine Freude damit machen kann, wenn man ihm ähnlich sieht.
»Das verwächst sich«, sagt Edo, denn er hat ja jetzt einen Sohn, der wiederum ihm ähnlich sehen muss .
»Ich könnte vielleicht für ein, zwei Wochen zu euch kommen, wenn du mit dem Kleinen aus dem Krankenhaus entlassen wirst, um ein bisschen zu helfen«, hatte Mama vor ein paar Tagen noch vorgeschlagen. Aber ich hatte abgelehnt, weil ich glaubte, dass Edo und ich uns erst mal alleine an unserem neuen, ehrlichen Familiensystem versuchen müssten, bevor wir vor Publikum auftreten könnten.
»Na, wo ist er denn, unser Enkel?«, fragt Sigrid, als sie mit ihrem Gefolge am Nachmittag meine Eltern ablöst. Hinter ihr traben Roy, Edos Bruder, dessen Frau, deren Schwester, Großmutter und noch drei oder vier andere Menschen ins Zimmer, von denen ich allerdings nicht verstanden habe, wie sie mit der Familie zusammenhängen. Ich überlege spontan, ob ich Timmy nicht schnell unter einem Kissen vor ihnen verstecken könnte, aber man soll keine Kissen auf Säuglinge legen, hat die Krankenschwester gesagt.
»Hier ist er«, sage ich also, obwohl Sigrid den kleinen Menschen, der in meinem Arm liegt, vermutlich auch selbst entdeckt hätte.
»Er sieht aus wie Edo als Baby!«, ruft sie freudig und klatscht in die Hände. Ich würde jetzt gerne darüber diskutieren, ob Gott es gut fände, dass sie hier so schamlos rumlügt. Immerhin sieht Timmy doch aus wie ich! »Gib ihn mir mal!«
Finger weg von meinem Timmy! »Ich glaube, er will jetzt schlafen. Wir sollten ihn nicht so aufregen nach der ganzen Anstrengung«, sage ich, aber da liegt Timmy bereits auf ihrem Arm.
»Roy, sieh doch nur!«
»Schön, schön.«
Und dann stimmt Sigrid ein Lied an. Es geht um Gottes Segen, natürlich, und alle steigen ergriffen mit ein. Bis auf mich. Das einzige Kirchenlied, das ich auswendig kenne, ist Stille Nacht , aber ich würde auch unter anderen Umständen nicht mitsingen.
»Danke«, sage ich aus Höflichkeit, als sie fertig sind. Ich strecke meine Arme nach Timmy aus und bekomme ihn zurück. Zumindest bis zum nächsten Frühjahr, denn dann soll, wenn es nach Sigrid geht, seine Taufe und damit die Aufnahme in die christliche Clique stattfinden. Das ist der Preis, den ich an sie zahle aus Dank dafür, dass sie ihren Sohn so erzogen hat, dass er Frauen, die von ihm schwanger sind, in dieser Situation nicht hängenlässt. Ich habe nichts gegen eine Taufe und gegen Menschen, deren Religiosität über Stille Nacht hinausgeht, aber ich weiß noch nicht, ob ich Timmy irgendwann einmal dazu zwingen werde, bei einer Frau zu bleiben, die ihm ein Kind angehängt hat. Genauso wenig wie ich weiß, ob es wirklich besser wäre, nach Hamburg zu ziehen, damit Sigrid nachmittags auf Timmy aufpassen und ihm vorlesen kann.
»Es gibt so wunderbare Geschichten für Kinder. Auch christliche.« Genau. In denen wird Jesus nicht ans Kreuz genagelt, sondern geklebt, weil’s weniger wehtut. Und zwar mit Glitzerkleber, weil’s zudem schöner aussieht.
»Ich bin ziemlich müde«, sage ich und hoffe, es wird verstanden.
»Natürlich. So eine Geburt ist ja auch zehrend.« Haste Töne. »Eed-Hu-Hard, vielleicht sollten wir Puppe jetzt alleine
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