Band 1 - Blutspur
abrupte Art, mit der sie mich losließ, zeigte deutlich, wie sehr ich sie gekränkt hatte. Das Salz unter ihren Füßen knirschte laut, als sie sich wieder in ihre Ecke zurückzog und sich setzte. Ich würde mich nicht bei ihr entschuldigen. Schließlich hatte ich nichts falsch gemacht. Ganz wohl fühlte ich mich trotzdem nicht in meiner Haut, als ich die Phiolen bis auf eine zu den Amuletten in den Schrank stel te. Beim Anblick meines Werks kehrte mein Stolz zurück: Ich hatte sie gemacht. Und auch wenn ich sie nicht verkaufen konnte, da die dafür nötigen Versicherungsprämien mehr als ein Jahresgehalt verschlingen würden; ich selbst konnte sie benutzen.
»Brauchst du heute Nacht Hilfe? Mir macht es nichts aus, dir den Rücken freizuhalten.«
»Nein«, platzte es aus mir heraus. Als ich Ivys Stirnrunzeln sah, versuchte ich, die Zurückweisung durch ein Lächeln zu mildern. Ich wäre gerne auf ihr Angebot eingegangen, aber ich konnte mich nicht dazu durchringen, ihr zu vertrauen.
Außerdem machte ich mich nur sehr ungern von anderen abhängig. Mein Dad war gestorben, weil er darauf vertraut hatte, dass ihm jemand den Rücken freihielt. »Arbeite al ein, Rachel«, hatte er mir geraten, als ich an seinem Krankenbett saß und seine zitternde Hand hielt, während sein Blut mit immer weniger Sauerstoff versorgt wurde. »Arbeite immer al ein!«
»Wenn ich nicht einmal ein paar Schatten abschütteln kann, geschieht es mir ganz recht, wenn sie mich festnageln«, fügte ich ausweichend hinzu. Ich packte meine Klappschale, ein Fläschchen Salzwasser und eines von den neuen Tarnamuletten in meine Tasche.
»Wil st du die Sprüche nicht vorher einmal ausprobieren?«, fragte Ivy, als sie erkannte, dass ich mich im Aufbruch befand.
Ich strich mir nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Es wird spät. Sie werden schon funktionieren.«
Sie schien von meiner Einstel ung nicht gerade begeistert zu sein. »Wenn du bis zum Morgen nicht zurück bist, komme ich dich suchen.«
»Na schön.« Wenn ich bis zum Morgen nicht zurück war, war ich tot. Ich schnappte mir meinen langen Wintermantel von einem Stuhl und schlüpfte hinein. Dann lächelte ich Ivy noch einmal unbehaglich zu, bevor ich durch die Hintertür verschwand. Ich wol te auf Nummer sicher gehen und den Bus erst einen Block weiter nehmen, deshalb ging ich über den Friedhof.
Die Frühlingsluft war noch kalt und ich zitterte leicht, als ich die Fliegengittertür hinter mir zuzog. Dabei fiel mein Blick auf die gestapelten Splat Bal s. Das Gefühl der Verwundbarkeit kehrte zurück und ich huschte in den Schatten der Eiche, um meinen Augen Zeit zu geben, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Es war kurz nach Neumond, deshalb würde der Mond erst kurz vor der Morgendämmerung aufgehen. Danke, lieber Gott, für solche kleinen Gefäl igkeiten.
»Hey, Ms. Rachel!« Ich hörte ein leises Summen, und während ich mich umdrehte, dachte ich für einen Moment, es wäre Jenks. Aber es war Jax, Jenks' ältester Sohn. Der halbwüchsige Pixie hatte mir den Nachmittag über Gesel schaft geleistet, wobei ich ihm mehr als einmal fast etwas abgeschnitten hätte, wenn seine Neugier und seine
»Dienstauffassung« ihn gefährlich nah an meine Schere brachten. Er hatte seinen Vater vertreten, während dieser ein Nickerchen machte.
»Hi, Jax. Ist dein Vater wach?«, fragte ich und bot ihm meine Hand zur Landung an.
»Ms. Rachel«, stieß er atemlos hervor, »sie warten auf Sie.«
Mein Herz setzte kurz aus. »Wie viele? Wo?«
»Drei.« Er glühte grünlich vor lauter Aufregung. »Sie sind vorne. Große Typen, also, ungefähr Ihre Größe. Stinken wie Füchse. Ich habe sie entdeckt, als der alte Keasley sie von seinem Bürgersteig verjagt hat. Ich hätte Ihnen das schon früher erzählt, aber sie sind nicht rübergekommen und außerdem haben wir ihnen ihre restlichen Splat Bal s geklaut.
Und Papa hat gesagt, wir sol en Sie nicht damit belästigen, solange sie nicht über die Mauer kommen.«
»Es ist okay, das hast du gut gemacht.« Als ich mich wieder in Bewegung setzte, stieg Jax von meiner Hand auf.
»Ich wol te sowieso durch den Garten gehen und den Bus auf der anderen Seite des Blocks nehmen.« Ich orientierte mich kurz und klopfte dann sanft gegen den Baumstumpf, in dem Jenks hauste. »Jenks«, sagte ich leise und musste über den kaum hörbaren Wutschrei grinsen, der aus dem alten Baum ertönte. »Es gibt Arbeit.«
10
Die hübsche Frau, die mir gegenübersaß, stand auf, um
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