Bankgeheimnisse
ihn in seiner Villa im Taunus, wo er allein lebte und die wenige ihm verbleibende freie Zeit verbrachte. Er saß am Tisch, den Kopf in die Hände gestützt, das Buch vor sich aufgeklappt, und las auf seine besondere Art. Sein Mund öffnete und schloß sich, seine Brauen hoben und senkten sich. Sein Gesicht zeigte Freude, Trauer, Beifall, Mißbilligung. Bücher sind wie gute Freunde, sagte er. Sie sind stumm und reden doch. Sie sind bei dir und lassen dich doch allein.
Manchmal, wenn sie ihn besuchte, las er in ihrer Gegenwart. Es gab Momente, in denen ihre Augen brannten. Wenn er lächelte, mit geschlossenen Lippen wie ein müdes Kind. Wenn er das Buch weglegte und hochsah, den Blick trunken von jener fremden Welt auf Papier.
Er war für sie der Pol gewesen, der ihre Welt im Gleichgewicht hielt. Er hatte ihr wie einem Kind geholfen, das hingefallen war, als die Scherben ihrer zerbrechenden Ehe sie verletzten. Klingenberg war zwanzig Jahre älter gewesen als sie. Sie hätte mit ihm geschlafen, wenn er sie gewollt hätte. Einmal hatte sie ihn unverblümt gefragt, ob er sie begehre. So, wie ein Vater seine Tochter begehrt, hatte er gesagt. Sie war ihm das gewesen, was Natascha für ihn in einer anderen Welt hätte werden können. Jetzt war er wieder mit seiner richtigen Tochter zusammen, wo immer das sein mochte. Jedenfalls hatte er daran geglaubt. Er war bekennender Christ gewesen und hatte doch getötet. Sich das Leben genommen, es nicht in Gottes Hand befohlen, sondern es abgestreift wie ein lästiges Anhängsel. Wie eine zerbrochene Fiedel. Eine verbrauchte Hure.
Er war melancholisch gewesen. Seit dem Tod seiner Tochter hatte ihn diese greifbare Traurigkeit umschwebt. Und doch waren da seine Urlaubspläne. Sylt. Die Toskana. Er hatte nach Florenz fahren und ihr von dort lange Briefe schreiben wollen. Sie hatte gewitzelt, daß sie von ihm noch nie Post bekommen hatte. Johanna starrte auf die Abschiedsworte. Das letzte Stück. Keine Nachricht für die wenigen Leute, die er gemocht hatte. Nichts. In dem letzten Stück hatte Johanna Herbst keine Rolle gespielt. Ihre Finger spielten nervös mit dem Zettel. Die Nägel, sonst immer penibel gepflegt, waren abgekaut und gesplittert. Sie spürte wieder die Übelkeit, von der sie wußte, daß sie nicht das geringste mit Klingenbergs Tod zu tun hatte. Sie hob den Kopf. Leo stieß die Tür zu ihrem Büro auf und kam herein, wie immer ohne anzuklopfen. Johanna faltete ohne Hast das Fax zusammen, zog die oberste Schublade ihres Schreibtisches auf und legte es hinein. Sie würde es sich nicht noch einmal ansehen müssen. Das, was darin stand, kannte sie auswendig.
»Was willst du, Leo?«
»Guten Tag, lieber Leo. Wie geht es dir, lieber Leo? Lange nicht gesehen, nett, daß du mal wieder reinschaust, lieber Leo!« Er ließ sich auf ihrer Schreibtischkante nieder. Sein blondes Haar war frisch geschnitten. Es sah aus, als hätte er es stundenlang gefönt und frisiert, doch sie wußte, daß die Wellen natürlich waren; es genügte, wenn er kurz mit dem Kamm hindurchstrich. Er beugte sich über ihren Schreibtisch und schaltete den Bildschirm ihres Nachrichtencomputers ein. »Hm, US-Präsident legt Veto ein. Wußte ich’s doch. Der Dollar hat leicht angezogen. Steht jetzt bei... Nein, nicht, laß das. Ich will nur schnell die Headlines und die vorbörslichen Notierungen durchgehen.«
Sie schob seine Hand von den Tasten und schaltete das Gerät aus. »Du hast vier Stockwerke tiefer dein eigenes Büro und deinen eigenen Reuters. Erzähl mir nicht, daß du dich heute noch nicht reingeschaltet hast. Wahrscheinlich ist er immer noch an. Was ist los? Gibt’s irgendwas, das wir zu besprechen hätten?«
»Da wäre einiges. Angefangen von dem neuen Schloß bis hin zu den Scheidungspapieren, die mir letzte Woche ins Haus geflattert sind.«
»Hast du etwas anderes erwartet?«
»Hm, ich dachte, das Beerdigungskleid hätte dich vielleicht umstimmen können. Du hast nett darin ausgesehen. Wunderschön.«
Sie hatte ihn nicht auf der Beerdigung gesehen. Sie bezweifelte, daß er überhaupt dagewesen war.
»Du hast dich noch nicht für das Kleid bedankt.«
»Das letzte Mal hat für zwei Kleider gereicht.«
» Touché! « Er lachte unbekümmert, hob die Hand und berührte ihr Haar. Sie wich ihm aus.
Er ließ die Hand sinken. »Überleg dir das mit der Scheidung lieber noch mal. Ich habe mir sagen lassen, daß es problematisch wird, wenn es so viele Versöhnungsversuche gibt wie bei uns
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