Bankster
einen unvergesslichen Waldspaziergang im Gelände hinter dem kleinen Hotel gemacht – ich kann kaum glauben, dass ich gerade von einem unvergesslichen Spaziergang spreche –, aber genau das war er, und ich habe ihn im letzten Jahr wieder gemacht, bin wieder vom Spazierweg abgebogen, weg von den orangefarbenen Dreiecken auf den Baumstümpfen, die aus dem Schnee herauslugten, habe mich bis zur Erschöpfung durch die Schneewehen geschlagen, mich auf den Rücken fallen lassen und tief den Tannenduft eingeatmet, so lange, wie ich mich getraut habe, bis mich die Dunkelheit aus dem Schneebett gescheucht hat.
Tag 23
Samstag und Monatsende. Das macht manchmal mehr Spaß, aber auch nicht immer.
Gestern hat Mama wegen Weihnachten angerufen, wollte wissen, ob wir schon entschieden haben, wo wir feiern wollen. Ich erzählte ihr von unserem Plan, Heiligabend zu zweit bei uns zu Hause zu bleiben, es wie im letzten Jahr besprochen mal auszuprobieren. Eigentlich fand ich es aber noch ein bisschen zu früh, um über Weihnachten nachzudenken, was ich Mama auch gesagt habe. Das fand sie zu einem gewissen Teil auch, aber sie wollte uns sagen, dass wir im Westen willkommen seien, falls wir Ruhe und Entspannung suchten, mal wieder einen Gang zurückschalten wollten, und sie meinte noch, dass nach all den Jahren bei Harpas Eltern jetzt ja vielleicht die Zeit reif sei, Weihnachten einmal bei ihnen zu verbringen. Gut, von dieser Möglichkeit zu wissen, und sie klingt in der Tat ziemlich verlockend. Eigentlich würde ich lieber bei Mama in der Küche sitzen als hier schreibend im Wohnzimmer, und ich wünschte mir, zu Hause zu sein – ja, zu Hause, dieser Raum mit einem Radius von ungefähr zehn Metern um die eigene Mutter herum, der nichts mit einer Schlafstätte oder einem Aufenthaltsort zu tun hat.
Gestern haben wir zum Abendessen eingeladen: Harpa hat ihre Jugendfreundinnen angerufen, während ich neben ihr saß und alle Informationen mitbekam. Alle haben zugesagt, und alle wollen sofort den Skiurlaub stornieren. Ich dachte, dass ich froh sein würde, aber seit ich mich an die Spaziergänge im Wald erinnert habe, bin ich das nicht mehr. Unsere Reisekameraden sind eine tolle Truppe, so unterhaltsam, dass ich froh über meine Idee mit dem Abendessen bin. Darauf freue ich mich schon, als Schadensersatz.
Tag 24
Die Schrift im Tagebuch ist bemerkenswert. Sie sieht so unterschiedlich aus, als wäre ich verschiedene Menschen.
Vielleicht sind Handschrift und Denkgeschwindigkeit miteinander verknüpft, vielleicht herrscht zwischen ihnen ein Ungleichgewicht, so dass die Gedankenflut immer wieder die Kapazität der Hand sprengt?
Ich habe gerade hier und da ein bisschen im Buch gelesen, und plötzlich fällt es mir schwer, das Ding Tagebuch zu nennen. Zum Beispiel das hier, was ich für den heutigen Tag im Kopf habe: Gestern hat meine Handynummer nicht mehr funktioniert. Harpa hat zu Hause auf dem Festnetz angerufen, um mir zu sagen, dass da etwas nicht stimmt. Als ich in den verstaubten Telefonhörer sprach, hatte ich gleich eine Ahnung, woran es liegen könnte. Ich hätte die Handynummer von der Bank sicher behalten können, hatte aber keine Lust auf ein Versteckspiel und bin daher seelenruhig in einen Laden gegangen, habe mir eine neue besorgt, ein solides Guthaben gekauft und überlegt, wie lange es wohl reichen würde. Seit mehr als fünf Jahren habe ich keine Handyrechnung mehr selbst bezahlt. Bevor ich das alte Handy mit der neuen Karte ausrüstete, habe ich mir einen saftigen Hamburger und eine kleine Cola im Glas geholt, und während ich aß, tat ich so, als würde ich die neue Grapevine-Ausgabe lesen, hörte in Wirklichkeit aber einem Junkie zu, der sich mit dem Ladenbesitzer über seine Zukunftspläne unterhielt – für den kommenden Samstag.
So führt man kein Tagebuch. In dem Eintrag geht es noch nicht einmal um den Tag, nach dem er benannt ist. Ein Tagebuch ist organisiert, ganze Tage werden in kurzen und zielgerichteten Sätzen abgehandelt, und es wird gewissenhaft das Wetter beschrieben. So sähe dieser Sonntag in einem Tagebuch aus: 02.11. Ich bin heute Morgen um kurz vor 10 Uhr aufgewacht – eigentlich zum ersten Mal schon in der Nacht, aber nur um aufs Klo zu gehen und ein Glas Wasser zu trinken. Als ich aufgestanden bin und aus dem Fenster geguckt habe, war es kalt und windig, raues Meer mit Schaumkronen auf den Wellen. So ist das Wetter den ganzen Tag über geblieben, bis auf mittags, als immer mal wieder plötzlich
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