Baphomets Bibel
von ihnen so schlecht bezahlt worden und hatte sich auf der Leiter ganz unten gesehen.
An manchen Tagen hatte er das Gotteshaus geliebt. An anderen wiederum hatte er es gehasst, auch wenn die Kathedrale an seinem Zustand keine Schuld trug. Es waren die Herrschenden, die ihm gezeigt hatten, wie wenig wert er war. Er hatte für sie gearbeitet, geschuftet. Er hatte seine Kirchendienste versehen und niemals Geld für Überstunden bekommen.
Das sollte sich nun ändern. Er hoffte auf die Rache des kleinen Mannes, die zu einer großen anwachsen konnte, wenn sein Plan tatsächlich gelang.
Ives wusste nicht, wem das alles bekannt war, was er kannte und nach langer Suche herausgefunden hatte. Es konnte sein, dass es einige hohe Kirchendiener wussten. Wenn ja, würden sie sich hüten, darüber zu sprechen. Das Schweigen war ungemein wichtig. Es gehörte einfach dazu. Davon konnte man nicht abgehen.
Für ihn gehörte die Kathedrale zu einem der rätselhaftesten Bauwerke der Welt, denn es gab noch eine Geschichte vor der Geschichte. Darüber allerdings sprach man nicht gern. Wer Fragen stellte, dem wurde gesagt, dass diese Zeit durch die verschiedenen Feuer vernichtet worden war. Aber so einfach war das nicht. Jetzt nicht mehr. Jetzt war er an der Reihe. Auch wenn er die 60 schon um fünf Jahre überschritten hatte, für ihn sollte noch mal ein neues Leben beginnen.
Seine Schwester hatte Angst um ihn. Das war sogar verständlich. Auch Ives schwebte nicht eben auf einer Wolke von Optimismus, aber er wusste, was er zu tun hatte. Und wenn es nicht klappte, hatte er jedenfalls sein Bestes gegeben.
»Ich gehe dann jetzt, Denise.«
Die Frau hob den Kopf. »Bitte, Ives, willst du es dir nicht noch mal überlegen?«
»Nein.«
»Und du wirst ihn treffen?«
An der Tür drehte er sich kurz um. »Ja, ich denke schon, dass ich ihn treffen werde.«
Denise startete einen letzten Versuch. »Aber er hat dich schon mal versetzt.«
»Das weiß ich. Er ließ mir später eine Nachricht zukommen und hat sich entschuldigt.«
»Bitte, die...«
Ives schüttelte den Kopf. »Nein, Denise, nein. Ich habe mich einmal entschlossen, und ich bleibe dabei. Bis später...«
»Hoffentlich«, flüsterte sie.
Ihr Bruder zog die Tür leise ins Schloss. Auch seine Schritte waren nicht mehr zu hören. Denise vernahm nur, dass der Motor des alten Renault gestartet wurde. Danach war auch die letzte Erinnerung an ihren Bruder verschwunden...
***
Die Flasche mit dem Cognac stand noch auf dem Tisch, als Denise ihre tränenfeuchten Augen trocken wischte. Sie hatte es nicht geschafft, ihren Bruder aufzuhalten. Irgendwie hatte sie auch damit gerechnet, weil sie ihn und seinen Dickkopf kannte.
Ives wusste um ein Geheimnis. Um etwas, dass tief in der Vergangenheit verborgen war. Er zählte sicherlich nicht zu den einzigen Geheimnisträgern, aber er hatte darüber geredet oder einfach reden müssen, um sich zu befreien.
So wusste Denise Bescheid.
Und sie hatte ihrem Bruder versprochen, alles für sich zu behalten. Aber galt dieses Versprechen jetzt auch noch? Jetzt, wo er in den Tod ging? Oder möglicherweise der Sensenmann schon seine Klauen nach ihm ausgestreckt hatte?
Nein, sie fühlte sich nicht mehr daran gebunden. Ihr Bruder ging der Gefahr mit offenen Augen entgegen, und deshalb hatte sie vorgesorgt. Auch Denise Blanc war im Schatten der Kathedrale groß geworden. Beruflich hatte sie damit nichts zu tun gehabt. Sie hatte viele Jahre lang in einer Bäckerei gearbeitet, aber an dieser gewaltigen Kirche war auch sie nicht vorbeigekommen. Ihr Chef hatte kleine Kathedralen aus Teig gebacken, und die waren von den Touristen in wahren Mengen gekauft worden. So hatte letztendlich auch Denise damit zu tun gehabt.
Und sie hatte im Laufe der Jahre mit einem Menschen Freundschaft geschlossen, der von Beruf Priester war. Er hielt keine Messen mehr ab, sondern war zuständig für die Bibliothek der Kathedrale. Er leitete sie. Er archivierte, er kannte die zahlreichen Bände, die in den Regalen standen und immer mal überholt werden mussten, damit sie nicht verfielen.
Der Priester war immer in die Bäckerei einkaufen gekommen. Auch als Denise ihren Job aufgegeben hatte, trafen sie immer mal zusammen, denn Chartres ist nun mal keine Großstadt.
Da saßen sie dann in einem Lokal zusammen und sprachen über Gott und die Welt.
Allmählich baute sich ein sehr vertrauliches Verhältnis zwischen ihnen auf. Denise war froh, diesen Mann getroffen zu haben. Er war jemand,
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