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Barbarendämmerung: Roman (German Edition)

Barbarendämmerung: Roman (German Edition)

Titel: Barbarendämmerung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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zögerte. Zu lange. Als er dann das Beil wieder hochreißen wollte, breitete der Verurteilte seine Arme aus. Fetzen der Fesselung trudelten zu Boden. Von seinen Handgelenken quoll Blut. Um dermaßen schnell sein zu können, hatte er in Kauf nehmen müssen, sich selbst zu schneiden. Der Henker stand immer noch vor ihm, das eingeschlagene Beil in beiden Händen, den massiven Leib vorgebeugt. Schwerfällig, brutal und blöde. Der Verurteilte schlug ihm mit dem Handballen gegen das Kinn der Maske. Das Antlitz des Gleichgültigen Jünglings verformte sich unter dieser Wucht zu einer säuerlichen Grimasse. Der Henker strauchelte stöhnend einen halben Schritt zurück und musste das Beil loslassen. Der Verurteilte riss sich mit links die Kapuze vom Kopf und nahm mit rechts das riesige Beil an sich. Das Geräusch, als es aus dem Richtblock schlüpfte, war wie das Einsaugen von Luft.
    »Er hat die Axt! Er hat die Axt!«, schrie vollkommen überflüssig irgendjemand, und in die Menge direkt vor der Bühne kam die Bewegung der Panik.
    Wie der Verurteilte nun dastand, die Lippen geschürzt, den Kopf vorgereckt, den Bauch jedoch flach und beinahe nicht atmend, wirkte er für einen Moment in den Augen von Welw Indencron wie etwas Vorzeitliches, Unüberwindbares, Unbegreifliches. »Vielleicht ist dieser Mann unfassbar «, dachte der junge Gelehrte, und bevor nun das Blut zu sprühen begann, war dieser Gedanke durchaus von Bewunderung durchtränkt.
    Dann aber griff der Verurteilte an, und die Panik schien selbst die Gebäude ringsum zum Erzittern zu bewegen.
    Er führte das Beil, für das selbst der stämmige Henker zwei Hände gebraucht hatte, einhändig in einem flirrenden Halbkreis und sprang dabei nach vorne. Seine Füße waren immer noch aneinandergekettet, deshalb musste er mit geschlossenen Beinen springen, was normalerweise vielleicht komisch ausgesehen hätte, unter diesen Umständen jedoch eher grausig-grotesk wirkte. Der Henker, der alles falsch gemacht hatte – danebengeschlagen, zu lange gezögert, unter Schlagwirkung zurückgewichen, nun zu spät nach vorne –, bekam das Beil in den Leib, faltete sich um die Schneide, als wäre er aus aufgeblasenem Pergament, und wurde abgestreift als ein vergessenswerter Kadaver. Die Menge schrie. Der Verurteilte sprang nochmals, die Schneide sirrte nun dunkelrot, beschrieb einen weiteren Halbkreis, dann noch einen, beide um Ebenen voneinander versetzt und aus dem Schwung des vorhergegangenen geboren. Die vordrängenden Büttel wurden wie mit einem X markiert, klafften auf und verteilten sich blutverströmend auf der Bühne.
    »Zurück, ihr Idioten!«, schrie ihr Kommandant, dessen Gesicht ein fahlweißes Zerrbild war. Und nach oben gewandt: »Worauf wartet ihr denn? Erschießt ihn doch! «
    Der Verurteilte hielt inne und blickte ebenfalls hoch. Zwei Armbrustbolzen rasten wie an Schnüren gerissen durch die Luft auf ihn zu. Dem einen entging er, indem er sich ein Stück weit abduckte. Den zweiten ließ er gegen die Beilschneide klirren, die er schützend vor sich hielt. Jetzt hatte er Zeit gewonnen. Die Schützen mussten erst nachladen. Er sprang wieder zu den Bütteln, die sich gegenseitig behinderten. Ihr Kommandant hatte den Rückzug befohlen, aber sie standen einander alle im Weg. Das Beil erwischte zwei weitere von ihnen, die brüllend hinfortgerissen wurden, als hätte die Pranke eines Riesen sie davongefegt. Das Beil erzeugte seine eigene Geschwindigkeit, schien Leben zu entwickeln, indem es den Tod brachte. Durstig schnitt es sich durch Schicksale. Der Körper des Verurteilten war wie ein Rittmeister, der ein schwer zu bändigendes Pferd bewegt.
    Die Menschen flüchteten. Auch sie standen sich im Weg. Einige fielen und wurden übertrampelt. Andere bekamen im Pressen der Menge keine Luft mehr und verloren das Bewusstsein.
    Welw Indencron starrte wie gebannt. Die Kurtisane Chaerea raffte ihre hochgeschlitzten Röcke und suchte das Weite. Ihre Blicke irrten wie punktförmige Hilferufe durch die Gegend.
    Welw Indencron vergaß sie vollständig. Er hatte noch niemals zuvor Menschen, die nicht zum Tode verurteilt worden waren, sterben sehen. Menschen, die darauf gar nicht gefasst gewesen waren. Was für ein Versäumnis für einen, der die Menschen studierte, dachte er nun. Er wusste gar nicht, was ihn mehr interessierte: die am Boden sich Wälzenden, die jammernd ihr Leben aushauchten, oder der Barbar, der als Vollstrecker des Beilwillens noch mehr und immer noch mehr Schaden

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