Barbarendämmerung: Roman (German Edition)
Holztribüne aus betrachtet ähnelte die Menge vielfarbigen Ratten, in deren Mitte man ein Feuer geworfen hatte. In alle Richtungen hetzten und krochen sie. Viele blieben aber auch liegen, überrannt, zerpresst oder von Erschöpfung übermannt. Einige flüchteten sich zu Indencron die Tribüne hinauf und sahen dabei aus wie Schiffsbrüchige, die sich an einen sinkenden Bug klammern. Indencron versuchte den Delinquenten auszumachen, konnte ihn aber nirgends sehen. Er schaute zu den beiden Schützen hinauf. Die waren mit ihren mühseligen Waffen beschäftigt. So langsam schien das dauernde Nachspannen ihre Kräfte zu übersteigen.
Die Tribüne erbebte. Indencron schreckte zusammen.
Vor ihm, dann an ihm vorüber.
Der Verurteilte. Blutend aus seiner Schulterwunde. Dabei aber so schnell. Er rannte die Stufen der Tribüne hinauf und darüber hinaus, an Indencron vorbei, was vollkommen widersinnig war, denn hinter der Tribüne war nichts mehr. Sie stand mitten auf dem Marktplatz und führte als Treppe ins Nichts. Der Verurteilte war ihre linke Flanke hinaufgelaufen und ins Leere gesprungen. So dicht an Indencron vorüber, dass dieser ihn hatte riechen können. Der Mann roch nicht nach Schweiß, eher nach Kerker. Und nach dem Blut und Fleisch von Fremden.
Indencron musste sich drehen wie ein Korkenzieher, um die Flugbahn des Mannes verfolgen zu können. Er war schnell hochgerannt, hatte sich weit abgestoßen, flog nun hoch hinauf. Und erreichte die Dachkante, über der einer der beiden Schützen stand.
Der war noch nicht ganz mit Nachladen fertig und machte nun ein quiekendes Geräusch. Furcht. Nackte Furcht ließ ihn seine Handgriffe verfummeln. Aber der andere. Der andere war beinahe so weit und nahm Maß.
Der Delinquent zerrte sich selbst in die Höhe. Indencron konnte nicht erkennen, ob er dabei das Beil benutzte, indem er es irgendwo oberhalb einhieb und daran emporklomm. Aber es war möglich, dass er es so machte, denn sein Emporziehen sah hebeltechnisch außergewöhnlich mühelos aus, fast als würde er angehoben.
Beide Schützen standen nicht direkt auf Dachschräge und Schindeln, sondern auf vorgelagerten, balkonartigen Plattformen, die gerade genügend Platz boten für einen einzigen Menschen. Es gab keinerlei Geländer oder Brüstung dort oben, die Plattformen waren eigentlich nicht zum Betreten gedacht und vom Kommandanten lediglich wegen ihrer hervorragenden strategischen Lage als Schützenstandorte ausgewählt worden. Der Schütze wich nun instinktiv fiepend zurück, als sich der Mörder zu ihm auf die kleine Fläche zog. Aber er konnte nicht weg. Hinter ihm ragte die Dachschräge auf. Vom Dachbodenfensterchen aus führte die Strickleiter hinab, über die er auf die Plattform gelangt war. Aber der Mörder war schon da. Niemals würde er schnell genug die Strickleiter hochkommen.
Wäre er schon mit Nachladen fertig gewesen, hätte er nun aus nächster Nähe schießen können. Aber er war noch nicht fertig. Die Armbrust und der nächste Bolzen klapperten zu Boden. Der Mörder hob das Beil an.
Die Armbrust des entfernten Schützen klackte.
Der Mörder duckte sich weg. Der Bolzen drang dem waffenlosen Schützen in die Brust. Er zappelte kurz, kippte gegen die Dachschräge und rutschte daran hinunter, bis er getötet mit halb offenem Mund und halb geöffneten Augen auf der Plattform zu sitzen kam.
Der Schütze von gegenüber hatte seinen eigenen Kameraden erschossen.
Für einen Augenblick starrten die beiden sich über die Festmarktplatzschlucht hinweg an, der Delinquent mit ruhigen, der Armbrustschütze mit brennenden Augen.
Dann krümmte sich der Schütze, um sich voll und ganz dem Nachladen seiner Waffe widmen zu können.
»Jetzt habe ich dich, du Mistkerl«, stieß er zwischen seinen Zähnen hervor. »Selbst wenn du die Armbrust aufhebst und selbst zu spannen beginnst, bin ich vor dir fertig und habe den ersten Schuss, denn ich habe schon angefangen, und du zögerst immer noch, du dummer Barbar. Diesmal kann ich gar nicht danebenschießen. Ich kenne jetzt alle deine Bewegungen. Du kannst dich nicht wegducken, und du kannst auch nicht jedes Mal das Beil vor dich halten. Jetzt bist du fällig.«
Der Geflohene betrachtete die Schlucht. Sie war viel zu weit für einen Sprung.
»Jetzt erwische ich dich, ich mach dich fertig, ich nagele dich ans Dach, ich beende das alles hier, es ist egal, was du tust, selbst runterspringen bringt dir nichts, mein Bolzen ist immer noch schneller als du und holt dich
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