Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
hat. Laut Polizei war der Tote in einer Gasse des Raval gefunden worden, kurz vor Tagesanbruch. Gegen zehn Uhr vormittags gelangte er ins Leichenhaus. Er hatte nur ein Buch und einen Paß bei sich, der ihn als Julián Fortuny Carax auswies, gebürtig aus Barcelona, geboren im Jahr 1900. Der Paß wies einen Stempel des Grenzübergangs La Junquera auf, woraus hervorging, daß Carax das Land einen Monat zuvor betreten hatte. Offensichtlich war die Todesursache eine Schußwunde. Don Manuel ist zwar nicht Arzt, aber mit der Zeit hat er das Repertoire kennengelernt. Seiner Meinung nach war der Schuß – direkt über dem Herzen – aus nächster Nähe abgegeben worden. Dank des Passes konnte man Señor Fortuny, Carax’ Vater, ausfindig machen, der noch am selben Abend ins Leichenhaus kam, wo er den Toten identifizieren sollte.«
»Bis dahin paßt alles zu dem, was Nuria Monfort erzählt hat.«
Barceló nickte.
»So ist es. Was dir Nuria Monfort nicht gesagt hat, ist, daß er, mein Freund Don Manuel, als er argwöhnte, die Polizei sei nicht allzusehr an dem Fall interessiert, und nachdem er festgestellt hatte, daß das Buch, das man in den Taschen des Toten gefunden hatte, dessen Namen trug – daß also Don Manuel die Initiative zu ergreifen beschloß und noch am selben Nachmittag, während er auf Señor Fortuny wartete, den Verlag anrief, um über den Vorfall Bericht zu erstatten.«
»Nuria Monfort hat mir gesagt, der Angestellte des Leichenschauhauses habe drei Tage später angerufen, nachdem die Leiche schon in einem Massengrab beigesetzt worden war.«
»Laut Don Manuel hat er am selben Tag angerufen, an dem der Tote eingeliefert wurde. Er hat gesagt, er habe mit einer Señorita gesprochen, die sich für seinen Anruf bedankte. Er erinnert sich, daß ihn ihr Verhalten schockiert hat. Nach seinen Worten ›war es, als wüßte sie es bereits‹.«
»Und was ist mit Señor Fortuny? Stimmt es, daß er sich geweigert hat, seinen Sohn zu identifizieren?«
»Darauf war ich am allermeisten gespannt. Don Manuel erklärt, bei Einbruch der Dunkelheit sei in Begleitung von zwei Polizisten ein zittriges Männchen gekommen. Es war Señor Fortuny. Das sei, wie er sagt, das einzige, woran man sich nie gewöhnen könne – der Moment, in dem die Angehörigen kommen, um die Leiche eines geliebten Menschen zu identifizieren. Das sei eine heikle Situation, die er niemandem wünsche. Am schlimmsten sei es, wenn der Tote ein junger Mensch sei, der von den Eltern oder einer frisch angetrauten Person identifiziert werden müsse. Don Manuel erinnert sich noch genau an Señor Fortuny. Er sagt, als er ins Leichenhaus gekommen sei, habe er sich kaum auf den Beinen halten können, er habe geweint wie ein Kind und die beiden Polizisten hätten ihn an den Armen führen müssen. Er habe nicht aufgehört zu wimmern: ›Was hat man mit meinem Sohn gemacht? Was hat man mit meinem Sohn gemacht?‹«
»Hat er die Leiche denn überhaupt gesehen?«
»Don Manuel hat mir erzählt, er sei drauf und dran gewesen, den Polizisten nahezulegen, auf die Formalität zu verzichten. Das sei das einzige Mal gewesen, daß es ihm in den Sinn gekommen sei, das Reglement in Frage zu stellen. Die Leiche war in üblem Zustand. Wahrscheinlich war der Mann schon seit über vierundzwanzig Stunden tot, als er ins Leichenhaus kam, nicht erst seit dem frühen Morgen, wie die Polizei angab. Don Manuel fürchtete, wenn dieses alte Männchen ihn sähe, würde er zerbrechen. Señor Fortuny hörte nicht auf zu sagen, es könne nicht sein, sein Julián könne nicht tot sein … Da schlug Don Manuel das Leichentuch zurück, und die beiden Polizisten fragten formell, ob das sein Sohn Julián sei.«
»Und?«
»Señor Fortuny blieb stumm und betrachtete die Leiche fast eine Minute lang. Dann machte er kehrt und ging.«
»Er ging?«
»In aller Eile.«
»Und die Polizei? Hat sie ihn nicht daran gehindert? Waren sie nicht da, um die Leiche zu identifizieren?«
Barceló lächelte böse.
»Theoretisch schon. Aber Don Manuel erinnert sich, daß noch jemand anders im Raum war, ein dritter Polizist, der leise hereingekommen war, als die andern Señor Fortuny vorbereiteten, und der die Szene schweigend verfolgt hatte, an die Wand gelehnt und eine Zigarette im Mund. Don Manuel erinnert sich an ihn, weil ihn, als er sagte, das Reglement verbiete das Rauchen im Leichenschauhaus ausdrücklich, einer der Polizisten zum Schweigen brachte. Kaum war Señor Fortuny gegangen, sei der dritte Polizist
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