Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
mich an ihre Einsamkeit erinnerte, als aus eigenem Antrieb. Mit den Jahren habe ich eine Bitterkeit in ihr wachsen sehen, die sie mit Ironie und Gleichgültigkeit zu kaschieren sucht. Manchmal denke ich, sie wartet noch immer darauf, daß dieser verzauberte fünfzehnjährige Daniel kommt, um sie anzubeten. Beas Gegenwart – die jeder andern Frau – vergiftet sie. Das letzte Mal, als ich sie sah, tastete sie ihr Gesicht nach Falten ab. Manchmal soll sie noch ihren alten Musiklehrer sehen, Adrián Neri, dessen Sinfonie weiterhin unvollendet bleibt und der anscheinend bei den Damen des Liceo-Kreises als Gigolo derart Karriere gemacht hat, daß ihm seine Schlafzimmerkunststücke den Spitznamen Die Zauberflöte eingetragen haben.
Dem Andenken an Inspektor Fumero waren die Jahre weniger gewogen. Nicht einmal die, die ihn gehaßt und gefürchtet hatten, scheinen sich noch an ihn zu erinnern. Vor langer Zeit begegnete ich auf dem Paseo de Gracia dem Polizisten Palacios, der aus dem Korps ausgeschieden war und jetzt in einer Schule der Bonanova Sportunterricht erteilt. Er erzählte mir, im Keller des Hauptreviers in der Vía Layetana gebe es weiterhin eine Gedenktafel zu Ehren Fumeros, aber der neue Getränkeautomat decke sie vollständig zu.
Entgegen jeder Vorhersage steht das Aldaya-Haus noch immer. Am Ende gelang es Señor Aguilars Immobilienfirma, es zu verkaufen. Es wurde vollständig restauriert, und die Engelsstatuen wurden als Belag für den Parkplatz auf dem Areal des ehemaligen AldayaGartens zu Kies verschrotet. Heute beherbergt es eine Werbeagentur. Ich gestehe, daß ich eines Tages unter Anführung unwahrscheinlicher Gründe dort vorgesprochen und darum gebeten habe, das Haus zu besichtigen. Die alte Bibliothek, in der ich um ein Haar mein Leben gelassen hätte, ist jetzt ein mit Werbeplakaten für Deodorants und Waschmittel mit Wunderkräften ausgekleideter Sitzungsraum. Das Zimmer, in dem Bea und ich Julián zeugten, ist das Bad des Generaldirektors.
Als ich an diesem Tag nach dem Besuch des ehemaligen Aldaya-Hauses in die Buchhandlung zurückging, fand ich in der Post ein Paket mit einem Pariser Poststempel. Es enthielt ein Buch mit dem Titel Die Nebelburg, Roman eines gewissen Boris Laurent. Ich blätterte es rasch durch und spürte dabei diesen verheißungsvollen Zauberduft neuer Bücher. Ganz zufällig blieb ich bei einem Satzanfang hängen. Sogleich war mir klar, wer ihn geschrieben hatte, und als ich zur ersten Seite zurückging, überraschte es mich nicht, in der blauen Schrift dieses Füllfederhalters, den ich als Junge so angebetet hatte, folgende Widmung zu finden:
Für meinen Freund Daniel, der mir Stimme und Feder zurückgegeben hat. Und für Bea, die uns beiden das Leben zurückgegeben hat.
Ein junger Mann, schon mit einigen weißen Haaren, spaziert durch die Straßen eines Barcelonas, auf dem ein aschener Himmel lastet und dunstiges Sonnenlicht auf die Rambla de Santa Mónica filtert.
An seiner Hand geht ein etwa zehnjähriger Junge, ganz aufgeregt angesichts des Geheimnisses, das ihm sein Vater am Morgen verheißen hat, das Versprechen des Friedhofs der Vergessenen Bücher.
»Julián, was du heute sehen wirst, darfst du niemandem erzählen. Niemandem.«
»Auch nicht Mama?« fragt der Junge mit gedämpfter Stimme.
Sein Vater seufzt hinter seinem traurigen Lächeln, das ihn durchs Leben verfolgt.
»Aber natürlich«, antwortet er. »Vor ihr haben wir keine Geheimnisse. Ihr darfst du alles erzählen.«
Kurz darauf verlieren sich Vater und Sohn, Dunstgestalten, im Gedränge auf den Ramblas, ihre Schritte gehen für immer unter im Schatten des Windes.
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