Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
Stengel schwammen im Wasser auf der Tischdecke. In der Diele zeterte mein Vater, beide Polizisten hielten ihn nun fest wie in einem Schraubstock. Ich konnte seine Worte kaum verstehen. Alles, was ich zu verarbeiten vermochte, war der eisige Druck des Revolverlaufs, der sich mir in die Wange grub.
»Mich verarschst du nicht, du Scheißbengel, oder dein Vater kann dein Hirn auf dem Boden zusammenkratzen, kapiert?«
Ich nickte zitternd. Fumero preßte den Revolverlauf fest an meinen Backenknochen. Ich spürte, daß er mir in die Haut schnitt, wagte aber nicht mit der Wimper zu zucken.
»Ich frage dich zum letzten Mal: Wo ist er?«
Ich sah, wie ich mich in den schwarzen Pupillen des Inspektors spiegelte, die sich langsam verengten, während er mit dem Zeigefinger den Abzug spannte.
»Nicht hier. Ich habe ihn seit Mittag nicht mehr gesehen. Das ist die Wahrheit.«
Eine halbe Minute lang rührte sich Fumero nicht, sondern bohrte mir nur den Revolver ins Gesicht und leckte sich die Lippen.
»Lerma«, befahl er, »schauen Sie sich um.«
Eilig machte sich einer der Polizisten daran, die Wohnung zu inspizieren. Mein Vater rangelte vergebens mit dem andern Polizisten.
»Wenn du mich angelogen hast und wir ihn in dieser Wohnung finden, schwöre ich dir, daß ich deinem Vater beide Beine breche«, zischte Fumero.
»Mein Vater weiß nichts. Lassen Sie ihn in Frieden.«
»Nein, du weißt nicht, worauf du dich da eingelassen hast. Aber sobald ich deinen Freund umgeblasen habe, ist das Spiel aus. Keine Richter, keine Krankenhäuser, kein gar nix. Diesmal übernehme ich es persönlich, ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Und ich werde es genießen, glaub mir. Ich werde mir viel Zeit nehmen. Das kannst du ihm sagen, wenn du ihn siehst. Denn ich werde ihn finden, auch wenn er sich unter den Pflastersteinen versteckt. Und du bist als Nächster dran.«
Der Polizist Lerma erschien wieder im Eßzimmer, tauschte einen Blick mit Fumero und schüttelte den Kopf. Fumero ließ den Abzug los und senkte den Revolver. »Schade«, sagte er.
»Wessen bezichtigen Sie ihn denn? Warum suchen Sie ihn?«
Fumero kehrte mir den Rücken zu und trat zu den beiden Polizisten, die auf ein Zeichen von ihm meinen Vater losließen.
»Daran werden Sie sich noch erinnern«, warf ihm mein Vater an den Kopf.
Fumero faßte ihn ins Auge. Instinktiv wich mein Vater einen Schritt zurück. Ich fürchtete, das sei erst der Anfang von Fumeros Besuch gewesen, aber unversehens schüttelte er den Kopf, lachte leise und verließ ohne weitere Worte die Wohnung. Lerma folgte ihm. Der dritte Polizist, meine Dauerwache, blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen. Er schaute mich schweigend an, als wollte er mir gleich etwas sagen.
»Palacios!« brüllte Fumero mit vom Echo des Treppenhauses verzerrter Stimme.
Palacios senkte die Augen und verschwand durch die Tür. Ich ging auf den Absatz hinaus. Wie Messerklingen drang das Licht aus den einen Spaltbreit geöffneten Türen mehrerer Nachbarn, die mit erschreckten Gesichtern ins Halbdunkel herausspähten. Die drei grauen Mäntel verschwanden treppab, und ihre rabiaten Schritte verebbten allmählich und hinterließen eine Spur der Angst.
Etwa um Mitternacht hörten wir erneut Schläge an der Tür, diesmal schwächer, fast ängstlich. Mein Vater, der mir mit Wasserstoffperoxid die Quetschung von Fumeros Revolver reinigte, hielt abrupt inne. Unsere Blicke trafen sich. Drei neue Schläge.
Einen Moment dachte ich, es sei Fermín, der den ganzen Zwischenfall vielleicht von einem dunklen Winkel des Treppenhauses aus verfolgt hatte.
»Wer da?« fragte mein Vater.
»Don Anacleto, Señor Sempere.«
Mein Vater seufzte. Wir öffneten die Tür, und vor uns stand der Lehrer, blasser denn je.
»Was ist denn, Don Anacleto? Geht es Ihnen nicht gut?« fragte mein Vater und bat ihn herein.
Der Lehrer hatte eine zusammengefaltete Zeitung in der Hand. Mit einem erschrockenen Blick und wortlos reichte er sie uns. Die Druckerschwärze war noch frisch.
»Das ist die Ausgabe von morgen früh«, flüsterte er. »Seite 6.«
Als erstes sah ich die beiden Fotos unter der Schlagzeile. Das eine zeigte einen fülligeren Fermín mit dichterem Haar, der fünfzehn oder zwanzig Jahre jünger sein mochte. Auf dem zweiten war das Gesicht einer Frau mit geschlossenen Augen und Marmorhaut zu sehen. Ich erkannte sie erst nach einigen Sekunden, da ich sie immer nur im Halbdunkel gesehen hatte.
BETTLER ERMORDET FRAU AM HELLICHTEN TAGE
Barcelona (Agenturen/Redaktion). Die
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