Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
Verführers.«
Er wollte eben ins Detail gehen über die Besonderheiten und Techniken der Verführungskunst, als die Türglocke klingelte und mein Freund Tomás Aguilar eintrat. Mir blieb das Herz stehen. Zwar verweigerte mir die Vorsehung Bea, aber sie sandte mir ihren Bruder. Ein unheilverkündender Herold, dachte ich. Tomás machte ein düsteres Gesicht und blickte etwas mutlos drein.
»Mit was für einer Leichenbittermiene Sie daherkommen, Don Tomás«, sagte Fermín. »Sie trinken doch wenigstens ein Täßchen Kaffee mit uns, nicht wahr?«
»Ich sage nicht nein«, antwortete Tomás mit seiner üblichen Zurückhaltung.
Fermín schenkte ihm eine Tasse von dem Gebräu aus seiner Thermosflasche ein, das verdächtig nach Sherry roch.
»Irgendein Problem?« fragte ich.
Tomás zuckte die Schultern.
»Nichts Neues. Mein Vater hat heute wieder mal seinen ganz besonderen Tag, so daß ich lieber ein wenig an die frische Luft gegangen bin.«
Ich schluckte.
»Wieso denn?«
»Weiß Gott, warum. Gestern nacht ist meine Schwester sehr spät nach Hause gekommen. Mein Vater hat auf sie gewartet, ein wenig betrunken wie immer. Sie hat sich geweigert, zu sagen, woher sie kam und mit wem sie zusammengewesen war, und mein Vater wurde fuchsteufelswild. Bis um vier Uhr früh hat er rumgeschrien und sie als Hure und noch schlimmer tituliert und geschworen, sie ins Kloster zu stecken und, falls sie schwanger ist, mit Fußtritten auf die Straße rauszuschmeißen.«
Fermín warf mir einen alarmierten Blick zu. Ich spürte, daß sich die Schweißtropfen, die mir den Rücken hinunterliefen, um mehrere Grad abkühlten.
»Heute morgen«, fuhr Tomás fort, »hat sich Bea in ihrem Zimmer eingeschlossen, und sie ist den ganzen Tag nicht mehr rausgekommen. Mein Vater hat sich im Eßzimmer aufgebaut, um die ABC zu lesen und im Radio Zarzuelas in voller Lautstärke zu hören. In der Pause von Luisa Fernanda hab ich gehen müssen, sonst hätte ich den Verstand verloren.«
»Nun, gewiß war Ihre Schwester mit ihrem Verlobten zusammen, nicht?« stichelte Fermín. »Das ist doch normal.«
Hinter dem Ladentisch holte ich zu einem Fußtritt aus, aber Fermín wich ihm mit katzenhafter Beweglichkeit aus.
»Ihr Verlobter leistet den Wehrdienst ab«, korrigierte Tomás.
»Er kommt erst in zwei Wochen auf Urlaub. Und außerdem, wenn sie mit ihm ausgeht, ist sie spätestens um acht Uhr wieder zu Hause.«
»Und Sie haben keine Ahnung, wo sie war und mit wem?«
»Er hat doch schon gesagt, nein, Fermín«, mischte ich mich ein.
»Und Ihr Vater auch nicht?« Fermín amüsierte sich königlich und ließ nicht locker.
»Nein, aber er hat geschworen, es rauszukriegen und dem Betreffenden den Schädel einzuschlagen und die Beine abzuhacken, sobald er ihn hat.«
Ich wurde blaß. Ohne zu fragen, gab mir Fermín eine Tasse seines Gesöffs, und ich trank es in einem Zug aus. Mit seinem undurchdringlichen, dunklen Blick schaute mich Tomás schweigend an.
»Haben Sie das gehört?« sagte Fermín unversehens. »So was wie ein Trommelwirbel vor dem Salto mortale.«
»Nein.«
»Der Bauch meiner Wenigkeit. Da hab ich doch plötzlich Hunger gekriegt … Würde es Ihnen was ausmachen, wenn ich Sie eine Weile allein lasse und zur Bäckerei gehe, um zu sehen, ob ich ein Honigtörtchen kriege? Und damit meine ich noch nicht mal die neue Verkäuferin, die vor kurzem aus Reus gekommen ist und einem das Wasser im Munde zusammenlaufen läßt und so. Sie heißt ganz tugendhaft María Virtudes, aber das Kindchen hat so was Lasterhaftes … Also, ich lasse Sie allein, dann können Sie sich über Ihre Angelegenheiten unterhalten, ja?«
In zehn Sekunden war Fermín wie weggeblasen, unterwegs zu seinem Imbiß und der Begegnung mit dem Nymphchen. Tomás und ich blieben in unserem Schweigen allein.
»Tomás«, begann ich mit trockenem Mund, »deine Schwester war gestern abend mit mir zusammen.«
Er schaute mich unverwandt an.
»Sag was«, sagte ich.
»Du hast nicht alle Tassen im Schrank.«
Eine Minute lang drang Gemurmel von der Straße herein. Tomás hielt seine Tasse in der Hand, ohne zu trinken.
»Ist es dir ernst?« fragte er.
»Ich habe mich nur ein einziges Mal mit ihr getroffen.«
»Das ist keine Antwort.«
»Würde es dir was ausmachen?«
Er zuckte die Achseln.
»Du mußt wissen, was du tust. Würdest du sie nicht mehr treffen, nur weil ich dich darum bäte?«
»Ja«, log ich. »Aber bitte mich nicht darum.«
Er senkte den Kopf.
»Du kennst Bea nicht«, murmelte er.
Ich schwieg. Wortlos
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