Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
dem Bett, und wenn ich vier, fünf Münzen beisammen hatte, kaufte ich mir eiligst und ohne sein Wissen ein Buch.
Der liebste Ort in der ganzen Stadt war mir Sempere und Söhne in der Calle Santa Ana. Diese Buchhandlung mit dem Geruch nach altem Papier und Staub war mein Heiligtum und mein Zufluchtsort. Der Buchhändler überließ mir einen Stuhl in der Ecke, wo ich nach Lust und Laune jedes Buch meiner Wahl lesen konnte. Und fast nie wollte er für eines, das er mir in die Hand drückte, etwas haben, aber wenn er nicht aufpasste, legte ich ihm die zusammengekratzten Münzen auf den Ladentisch, bevor ich ging. Es war nur Kleingeld, und hätte ich mir mit diesem elenden Sümmchen ein Buch kaufen wollen, hätte ich mir sicher nur eines aus Zigarettenpapierblättchen leisten können. Wenn es dann Zeit wurde, musste ich Füße und Seele zum Aufbrechen zwingen – wäre es nach mir gegangen, ich wäre für immer dort geblieben.
Einmal machte mir Sempere zu Weihnachten das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe. Es war ein alter, aufs gründlichste gelesener und gelebter Band.
»Große Erwartungen, von Charles Dickens«, las ich auf dem Deckel.
Ich wusste, dass Sempere einige Schriftsteller kannte, die in seinem Laden verkehrten, und da er dieses Buch so liebevoll in die Hand nahm, dachte ich, dieser Herr Charles sei vielleicht einer von ihnen.
»Ein Freund von Ihnen?«
»Ein uralter. Und von heute an auch einer von dir.«
An diesem Abend nahm ich meinen neuen Freund, unter den Kleidern vor dem Vater verborgen, mit nach Hause. Es war ein regnerischer Winter mit bleiernen Tagen, in dem ich Große Erwartungen neunmal hintereinander las, teils weil ich nichts anderes zu lesen hatte, teils weil ich dachte, ein besseres Buch könne es gar nicht geben. Und mit der Zeit glaubte ich, dieser Herr Dickens habe es nur für mich geschrieben. Bald war ich der festen Überzeugung, im Leben nichts anderes zu wollen, als zu erlernen, was Herr Dickens tat.
Eines frühen Morgens schreckte ich aus dem Schlaf auf, als mich der Vater rüttelte, der vorzeitig von der Arbeit nach Hause gekommen war. Seine Augen waren blutunterlaufen, sein Atem stank nach Schnaps. Ich starrte ihn entsetzt an, und er tastete nach der nackten Glühbirne an ihrem Kabel. »Sie ist warm.«
Er bohrte seinen Blick in meine Augen und schmetterte die Birne wütend an die Wand. Sie zerschellte in tausend Splitter, die mir ins Gesicht regneten, aber ich wagte sie nicht wegzuwischen.
»Wo ist es?«, fragte er kalt.
Zitternd schüttelte ich den Kopf.
»Wo ist das Scheißbuch?«
Wieder schüttelte ich den Kopf. Im Dämmerlicht sah ich den Schlag nicht kommen. Vor meinen Augen wurde es schwarz, und ich spürte, wie ich aus dem Bett fiel mit Blut im Mund und einem heftigen Schmerz, der wie Feuer brannte. Als ich den Kopf zur Seite drehte, entdeckte ich auf dem Boden etwas, das aussah wie die abgebrochenen Stücke von zwei Zähnen. Die Hand des Vaters packte mich am Hals und zog mich hoch.
»Wo ist es?«
»Vater, bitte …«
Mit aller Kraft warf er mich mit dem Gesicht gegen die Wand. Beim Aufprall verlor ich das Gleichgewicht und fiel in mich zusammen wie ein Sack Knochen. Ich schleppte mich in eine Ecke und blieb zusammengekauert liegen, während ich sah, wie der Vater meine paar Kleidungsstücke aus dem Schrank riss und auf den Boden warf. Ergebnislos wühlte er in Schubladen und Koffern, bis er sich erschöpft von neuem auf mich stürzte. Ich schloss die Augen und krümmte mich gegen die Wand, um einen weiteren Schlag zu empfangen, der jedoch nicht kam. Als ich die Augen öffnete, sah ich den Vater auf der Bettkante sitzen und weinen, halb erstickt vor Scham. Er bemerkte meinen Blick und rannte die Treppe hinunter. Ich hörte, wie sich in der Morgenstille das Echo seiner Schritte entfernte, und erst als ich ihn weit weg wusste, schleppte ich mich zum Bett und holte das Buch aus seinem Versteck unter der Matratze hervor. Dann zog ich mich an und trat mit dem Buch auf die Straße hinaus.
Dichter Dunst hing in der Calle Santa Ana, als ich vor der Tür der Buchhandlung anlangte. Im selben Haus wohnten im ersten Stock der Buchhändler und sein Sohn. Sechs Uhr früh war zwar nicht die Zeit, um bei jemandem zu klingeln, aber in diesem Augenblick hatte ich nur den Gedanken, das Buch zu retten, und die Gewissheit, dass der Vater, wenn er es bei seiner Rückkehr zuhause vorfände, es mit seiner ganzen Wut in Fetzen reißen würde. Ich klingelte und wartete. Nach
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