Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
zwei, drei weiteren Malen hörte ich die Balkontür aufgehen und sah den alten Sempere in Morgenmantel und Pantoffeln heraustreten und verdutzt herunterblicken. Eine halbe Minute später öffnete er mir. Als er mein Gesicht erblickte, verschwand jeder Anflug von Zorn. Er kniete sich vor mir nieder und nahm mich bei den Armen.
»Heiliger Gott. Geht’s dir gut? Wer hat dir das angetan?«
»Niemand. Ich bin hingefallen.«
Ich reichte ihm das Buch.
»Ich bin gekommen, um es Ihnen zurückzugeben -ich will nicht, dass ihm etwas zustößt …«
Sempere schaute mich wortlos an. Dann nahm er mich auf den Arm und trug mich in die Wohnung hinauf. Sein Sohn, ein Junge von zwölf Jahren, der so schüchtern war, dass ich mich nicht erinnern konnte, je seine Stimme vernommen zu haben, war aufgewacht und wartete oben auf dem Treppenabsatz. Beim Anblick des Blutes in meinem Gesicht schaute er erschrocken seinen Vater an.
»Hol den Doktor Campos.«
Der Junge nickte und lief zum Telefon. Als ich ihn sprechen hörte, wusste ich endlich, dass er nicht stumm war. Die beiden trugen mich zu einem Sessel im Esszimmer und reinigten meine Wunden vom Blut, während sie auf den Arzt warteten.
»Du willst mir also nicht sagen, wer dir das angetan hat?«
Ich presste die Lippen zusammen. Sempere wusste nicht, wo ich wohnte, und ich mochte ihm keinen Hinweis liefern.
»War es dein Vater?«
Ich schaute weg.
»Nein. Ich bin hingefallen.«
Doktor Campos, der vier oder fünf Häuser entfernt wohnte, kam nach fünf Minuten. Er untersuchte mich von Kopf bis Fuß, betastete die blauen Flecken und behandelte die Schnitte so behutsam, wie er konnte. Seine Augen glühten vor Empörung, aber er sagte nichts.
»Gebrochen ist nichts, er hat aber einige Prellungen, die ein paar Tage anhalten werden und schmerzhaft sind. Diese beiden Zähne wird man ziehen müssen. Sie sind verloren, und es könnte eine Infektion geben.«
Nachdem der Arzt gegangen war, brachte mir Sempere ein Glas lauwarme Milch mit Kakao und schaute mir beim Trinken zu.
»Und all das, um die Großen Erwartungen zu retten?«
Ich zuckte die Achseln. Vater und Sohn lächelten sich verschwörerisch zu.
»Das nächste Mal, wenn du ein Buch retten willst, wirklich retten willst, sollst du nicht mehr dein Leben aufs Spiel setzen. Du sagst es mir, und ich werde dich an einen geheimen Ort bringen, wo die Bücher niemals sterben und niemand sie zerstören kann.«
Neugierig schaute ich die beiden an.
»Was ist das denn für ein Ort?«
Sempere zwinkerte mir zu mit diesem geheimnisvollen Lächeln, das sie aus einem Fortsetzungsroman von Alexandre Dumas zu haben schienen und das offenbar ein Markenzeichen der Familie war.
»Alles zu seiner Zeit, mein Freund. Alles zu seiner Zeit.«
Von Gewissensbissen zernagt, heftete der Vater die ganze folgende Woche über die Augen auf den Boden. Er kaufte eine neue Glühbirne und sagte sogar, wenn ich sie anknipsen wolle, dann nur zu, allerdings nicht lange, der Strom sei sehr teuer. Ich spielte lieber nicht mit dem Feuer. Am Samstag wollte mir der Vater ein Buch kaufen und ging in eine Buchhandlung in der Calle de la Palla gegenüber der alten römischen Mauer, die erste und letzte Buchhandlung, die er je betrat. Aber da er die Titel auf den Hunderten Buchrücken nicht lesen konnte, verließ er den Laden unverrichteter Dinge. Danach gab er mir Geld, mehr als üblich, und sagte, ich könne mir kaufen, worauf ich Lust hätte. Das schien mir der geeignete Moment, ein Thema zur Sprache zu bringen, das mir seit langem auf der Zunge brannte.
»Doña Mariana, die Lehrerin, hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, ob Sie wohl irgendwann einmal vorbeikommen könnten, um mit ihr wegen der Schule zu sprechen«, sagte ich wie nebenher.
»Um worüber zu sprechen? Hast du was ausgefressen?«
»Nein, Vater. Doña Mariana wollte sich mit Ihnen über meine künftige Ausbildung unterhalten. Sie sagt, ich sei begabt, und sie glaubt, sie könnte mir zu einem Stipendium verhelfen, um ins Piaristenkolleg einzutreten …«
»Was bildet sich diese Frau eigentlich ein, dir einen solchen Floh ins Ohr zu setzen und dich in eine Reiche-Leute-Schule schicken zu wollen? Weißt du überhaupt, was das für ein Pack ist? Weißt du, wie die dich anglotzen und behandeln, wenn rauskommt, wo du her bist?«
Ich senkte die Augen.
»Doña Mariana möchte nur helfen, Vater. Nichts weiter. Werden Sie nicht böse. Ich sage ihr einfach, es geht nicht, und Schluss.«
Der Vater
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