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Barcelona 02 - Das Spiel des Engels

Barcelona 02 - Das Spiel des Engels

Titel: Barcelona 02 - Das Spiel des Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Seiten vor. Jeden Tag begann ich wieder von vorn. Manchmal unterbrach ich mich, um aufzuschauen und mich vom Anflug eines Lächelns auf ihren Lippen überraschen zu lassen. Ich blieb den ganzen Tag bei ihr, bis gegen Abend der Arzt zurückkam und mich zu gehen bat. Dann schleppte ich mich im Schnee durch die menschenleeren Straßen ins Hotel, aß etwas zu Abend und schrieb anschließend in meinem Zimmer weiter, bis mich der Schlaf übermannte. Die Tage verloren ihre Namen.
    Als ich am fünften Morgen Cristinas Zimmer betrat, war der Sessel, in dem ich sie immer antraf, leer. Alarmiert schaute ich mich um und entdeckte sie in einer Ecke, zusammengekauert, die Arme um die Knie geschlungen und das Gesicht tränenüberströmt. Bei meinem Anblick lächelte sie, und ich begriff, dass sie mich erkannt hatte. Ich kniete neben ihr nieder und umarmte sie. Ich glaube, ich war noch nie so glücklich wie in diesen Sekunden, in denen ich ihren Atem im Gesicht spürte und sah, dass ein Funken Licht in ihre Augen zurückgekehrt war.
    »Wo bist du gewesen?«, fragte sie.
    An diesem Nachmittag gestattete mir Dr. Sanjuán einen einstündigen Spaziergang mit ihr. Wir setzten uns auf eine Bank am See. Sie begann mir von einem Traum zu erzählen, von einem kleinen Mädchen, das in einer dunklen, labyrinthischen Stadt lebte, deren Straßen und Häuser lebendig waren und sich von den Seelen ihrer Bewohner ernährten. In ihrem Traum, genauso wie in der Erzählung, die ich ihr in den letzten Tagen vorgelesen hatte, schaffte es die Kleine zu entkommen, und sie gelangte zu einem auf das grenzenlose Meer hinausführenden Steg. Sie ging an der Hand eines namen- und gesichtslosen Fremden, der sie gerettet hatte und nun ans Ende dieses aus Planken gefügten Weges begleitete, wo jemand sie erwartete, den sie nie zu sehen bekam, denn ihr Traum war, genau wie meine Geschichte, unvollendet.

Vage erinnerte sich Cristina an die Villa San Antonio und an Dr. Sanjuán. Errötend erzählte sie mir, sie glaube, er habe ihr in der Woche zuvor die Ehe angetragen. In ihrem Kopf gerieten Zeit und Raum durcheinander. Manchmal dachte sie, ihr Vater wohne in einem der Zimmer und sie sei ihn besuchen gekommen. Einen Augenblick später wusste sie nicht mehr, wie sie hierhergekommen war, und manchmal fragte sie sich nicht einmal danach. Sie erinnerte sich, dass ich Fahrkarten für den Zug kaufen gegangen war, und manchmal sprach sie von jenem Morgen, an dem sie verschwunden war, als wäre es gestern gewesen. Zuweilen verwechselte sie mich mit Vidal und bat mich dann um Verzeihung. Andere Male verfinsterte die Angst ihr Gesicht, und sie begann zu zittern.
    »Er kommt«, sagte sie. »Ich muss gehen. Bevor er dich sieht.«
    Dann verfiel sie in ein langes Schweigen und schien weit weg von mir und der Welt, als hätte irgendetwas sie an einen fernen, unerreichbaren Ort geschleift. Nach einigen Tagen traf mich die Gewissheit, dass sie den Verstand verloren hatte, wie ein Schlag. Die Hoffnung des ersten Augenblicks wurde bitter, und wenn ich abends in meine Hotelzelle zurückkehrte, spürte ich manchmal, wie sich in mir der alte Abgrund von Dunkelheit und Hass auftat, den ich schon vergessen geglaubt hatte. Dr. Sanjuán, der mich ebenso geduldig und hartnäckig beobachtete wie seine Patienten, hatte mich vorgewarnt.
    »Sie dürfen die Hoffnung nicht verlieren, mein Freund«, sagte er. »Wir machen große Fortschritte. Haben Sie Vertrauen.«
    Gehorsam stimmte ich zu und ging Tag für Tag ins Sanatorium, um mit Cristina zum See zu spazieren und mir diese geträumten Erinnerungen anzuhören, die sie mir Dutzende Male erzählt hatte, aber täglich von neuem entdeckte. Täglich fragte sie mich, wo ich gewesen sei, warum ich sie nicht geholt, warum ich sie allein gelassen habe. Täglich schaute sie mich zwischen den Gitterstäben ihres unsichtbaren Käfigs hindurch an und bat mich, sie zu umarmen. Täglich fragte sie mich beim Abschied, ob ich sie liebe, und immer gab ich dieselbe Antwort.
    »Ich werde dich immer lieben. Immer.«
    Eines Nachts weckte mich ein Klopfen an meiner Zimmertür. Es war drei Uhr früh. Benommen schleppte ich mich zur Tür und sah mich einer der Krankenschwestern des Sanatoriums gegenüber.
    »Dr. Sanjuán hat mich gebeten, Sie zu holen«, sagte sie.
    Zehn Minuten später betrat ich die Villa San Antonio. Die Schreie waren schon im Park zu hören. Cristina hatte ihre Tür von innen verriegelt. Dr. Sanjuán, der aussah, als hätte er seit einer Woche nicht

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