Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
sich geflüchtet hat. Und ich bin dieser Überzeugung, weil das Einzige, was sie in den letzten beiden Wochen gesagt hat, Ihr Name ist. Was immer ihr zugestoßen ist, ich glaube, es hatte mit Ihnen zu tun.«
Er schaute mich an, als erwarte er etwas von mir, etwas, was auf alle Fragen eine Antwort gäbe.
»Ich dachte, sie hätte mich verlassen«, begann ich.
»Wir wollten verreisen, alles hinter uns lassen. Ich war einen Moment aus dem Haus gegangen, um die Fahrkarten für den Zug zu kaufen und noch ein paar Besorgungen zu machen. Ich war höchstens anderthalb Stunden weg. Als ich zurückkam, war Cristina nicht mehr da.«
»Ist irgendetwas geschehen, bevor Sie weggingen? Haben Sie sich gestritten?«
Ich biss mir auf die Lippen.
»Ich würde es nicht Streit nennen.«
»Wie würden Sie es dann nennen?«
»Ich habe sie dabei ertappt, wie sie sich Papiere ansah, die mit meiner Arbeit zu tun hatten, und ich glaube, sie war gekränkt, weil sie das Gefühl hatte, ich würde ihr nicht vertrauen.«
»War es etwas Wichtiges?«
»Nein. Bloß ein Manuskript, ein Entwurf.«
»Darf ich fragen, was für eine Art Manuskript?«
Ich zögerte.
»Eine Fabel.«
»Für Kinder?«
»Sagen wir, für die ganze Familie.« »Verstehe.«
»Nein, ich glaube nicht, dass Sie es verstehen. Es gab keinen Streit. Cristina war nur ein wenig ärgerlich, weil ich ihr nicht erlaubt hatte, einen Blick hineinzuwerfen, nichts weiter. Als ich sie verließ, ging es ihr gut, sie packte für die Reise. Dieses Manuskript hat keinerlei Bedeutung.«
Er nickte eher höflich als überzeugt.
»Könnte es sein, dass jemand sie bei Ihnen aufgesucht hat, während Sie weg waren?«
»Niemand außer mir wusste, dass sie da war.«
»Fällt Ihnen irgendein Grund ein, warum sie das Haus verlassen haben könnte, bevor Sie zurückkamen?«
»Nein. Wieso?«
»Das alles sind nur Fragen, Señor Martín. Ich versuche zu klären, was geschehen ist zwischen dem Augenblick, in dem Sie sie zum letzten Mal gesehen haben, und ihrem Erscheinen hier.«
»Hat sie gesagt, wer oder was in sie gefahren ist?«
»Das ist eine Redensart, Señor Martín. Nichts ist in Cristina gefahren. Patienten, die etwas Traumatisches erlebt haben, glauben nicht selten die Gegenwart verstorbener Angehöriger oder fiktiver Personen zu verspüren. Dazu gehört oft auch, dass sie in ihrem eigenen Geist Zuflucht suchen und die Türen zur Außenwelt verriegeln. Das ist eine emotionale Antwort, eine Art, sich gegen Gefühle oder Erregungszustände zu wehren, die sie nicht annehmen können. Das braucht Sie im Moment nicht zu beunruhigen. Was zählt und was uns helfen wird, ist, dass Sie der wichtigste Mensch für sie sind. Aufgrund von Dingen, die sie mir seinerzeit erzählt hat und die unter uns geblieben sind, und aufgrund dessen, was ich in den letzten Wochen selbst beobachtet habe, weiß ich, dass Cristina Sie liebt, Señor Martín. Sie liebt Sie so sehr, wie sie noch nie jemanden geliebt hat und wie sie mich sicher nie lieben wird. Darum bitte ich Sie, sich nicht durch Angst oder Ressentiments blenden zu lassen und mir zu helfen – wir wollen beide dasselbe.
Wir wollen beide, dass Cristina diesen Ort wieder verlassen kann.«
Ich nickte beschämt.
»Verzeihen Sie, wenn ich vorhin …«
Er hob beschwichtigend die Hand. Dann stand er auf und schlüpfte in den Mantel. Wir gaben uns die Hand.
»Ich erwarte Sie morgen«, sagte er.
»Danke, Doktor.«
»Ich danke Ihnen. Dass Sie zu ihr gekommen sind.«
Als ich am nächsten Tag das Hotel verließ, ging gerade die Sonne über dem gefrorenen See auf. Eine Gruppe Kinder spielte am Ufer und warf mit Steinen nach dem Rumpf eines im Eis festgefrorenen Bootes. Es hatte zu schneien aufgehört, und in der Ferne konnte man die weißen Berge und am Himmel große Wolken sehen, die dahinglitten wie riesige Burgen aus Dunst. Kurz vor neun Uhr erreichte ich das Sanatorium. Dr. Sanjuán saß mit Cristina im Park in der Sonne und erwartete mich. Er hielt ihre Hand in der seinen, während er mit ihr sprach. Als er mich durch den Park kommen sah, winkte er mich herbei. Er hatte einen Stuhl für mich vor Cristina hingestellt. Ich setzte mich und schaute sie an. Unsere Blicke trafen sich, ohne dass sie mich sah.
»Cristina, schau, wer gekommen ist«, sagte der Arzt.
Ich ergriff ihre Hand und beugte mich dicht zu ihr hin.
»Sprechen Sie mit ihr«, sagte der Arzt.
Ich nickte, von diesem abwesenden Blick gebannt, und fand keine Worte. Der Arzt stand auf und
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