Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
verschwand im Haus, nachdem er einer Schwester aufgetragen hatte, uns nicht aus den Augen zu lassen. Ich ignorierte ihre Anwesenheit und rückte den Stuhl näher an Cristina heran. Dann strich ich ihr das Haar aus der Stirn, und sie lächelte.
»Erinnerst du dich an mich?«, fragte ich.
Ich sah mich in ihren Augen gespiegelt, wusste aber nicht, ob sie mich sah oder meine Stimme hörte.
»Der Doktor sagt, du wirst dich bald erholen, und dann können wir gehen. Wohin du willst. Ich habe gedacht, ich ziehe aus dem Haus mit dem Turm aus und wir gehen weit weg, wie du es wolltest. Irgendwohin, wo uns niemand kennt und wo es niemanden interessiert, wer wir sind und woher wir kommen.«
Ihre Hände steckten in Wollhandschuhen, die die Verbände an den Armen verbargen. Sie war abgemagert, und tiefe Furchen hatten sich in ihr Gesicht gegraben, die Lippen waren gesprungen und die glanzlosen Augen ohne Leben. Ich lächelte ihr zu und streichelte ihr Wangen und Stirn, sprach unablässig, erzählte ihr, wie sehr ich sie vermisst und dass ich sie überall gesucht hätte. So verbrachten wir zwei Stunden, bis der Arzt zurückkam und sie zusammen mit der Krankenschwester hineinbrachte. Ich blieb sitzen, da ich nicht wusste, wohin ich gehen sollte, bis Dr. Sanjuán wieder herauskam und neben mir Platz nahm.
»Sie hat kein Wort gesagt. Ich glaube, sie hat nicht einmal wahrgenommen, dass ich da bin …«
»Da irren Sie sich, mein Freund. Das ist ein langsamer Prozess, aber ich versichere Ihnen, dass Ihre Anwesenheit ihr hilft, und zwar sehr.«
Ich nahm seine barmherzigen Almosen und Schwindeleien nickend entgegen.
»Morgen versuchen wir es wieder«, sagte er.
Es war noch nicht einmal zwölf.
»Und was soll ich jetzt tun bis morgen?«, fragte ich.
»Sie sind doch Schriftsteller. Schreiben Sie. Schreiben Sie etwas für sie.«
9
Am See entlang kehrte ich ins Hotel zurück. Der Portier erklärte mir, wie ich die einzige Buchhandlung des Ortes fände. Dort kaufte ich Schreibpapier und einen Füllfederhalter, der seit unvordenklichen Zeiten da gelegen haben musste. Dergestalt ausgerüstet, schloss ich mich in meinem Zimmer ein, nachdem ich eine Thermosflasche Kaffee bestellt hatte. Ich rückte den Tisch ans Fenster und schaute fast eine Stunde auf den See und die Berge in der Ferne, ehe ich das erste Wort schrieb. Ich erinnerte mich an die alte Fotografie, die mir Cristina geschenkt hatte und auf der ein Mädchen zu sehen war, das auf einem Holzsteg ins Meer hinausschritt. Ihr Geheimnis war ihr immer verborgen geblieben. Ich stellte mir vor, ich schreite ebenfalls über diesen Steg, meine Schritte führten mich hinter ihr her, und ganz allmählich begannen die Worte zu fließen, und das Gerüst einer kleinen Geschichte zeichnete sich ab. Ich wusste, dass ich die Geschichte schreiben würde, an die sich Cristina nicht erinnern konnte: warum sie als Mädchen an der Hand eines Fremden auf das glitzernde Wasser hinausgegangen war. Ich wollte die Geschichte dieser Erinnerung schreiben, die niemals eine gewesen war, der Erinnerung an ein geraubtes Leben. Die Bilder und das Licht, die in diesen Sätzen aufschienen, trugen mich wieder in das alte, finstere Barcelona zurück, das uns beide geschaffen hatte. Ich schrieb, bis die Sonne unterging und kein Tropfen Kaffee mehr in der Thermosflasche war, der gefrorene See unter dem blauen Mond zu leuchten begann und mir Augen und Hände schmerzten. Ich ließ den Füllfederhalter fallen und schob die Blätter von mir. Als der Portier anklopfte, um zu fragen, ob ich zum Abendessen käme, ignorierte ich ihn. Einen Moment später fiel ich in einen tiefen Schlaf, träumte ausnahmsweise einmal und glaubte an die heilende Kraft der Worte, selbst der meinen.
Die nächsten vier Tage verliefen alle gleich. Ich erwachte in der Morgendämmerung und trat auf den Balkon hinaus, um zuzuschauen, wie die Sonne den See zu meinen Füßen rot färbte. Gegen halb neun war ich im Sanatorium und traf wie üblich Dr. Sanjuán auf den Stufen der Eingangstreppe sitzend, wo er mit einer Tasse dampfenden Kaffees in der Hand den Park betrachtete.
»Schlafen Sie nie, Doktor?«, fragte ich.
»Nicht mehr als Sie.«
Gegen neun Uhr begleitete er mich zu Cristinas Zimmer, schloss die Tür auf und ließ uns allein. Immer saß sie im selben Sessel vor dem Fenster. Ich rückte einen Stuhl heran und ergriff ihre Hand. Sie nahm meine Anwesenheit kaum zur Kenntnis. Dann las ich ihr die am Vorabend für sie geschriebenen
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