Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
Pfeifen des Windes in den Spalten des versengten Gewölbes zu. Ich schaute auf und wünschte mir, wenigstens eine Spur des Glaubens meines alten Freundes Sempere in mir zu tragen, des Glaubens an Gott oder an die Bücher, um Gott oder die Hölle um eine weitere Chance zu bitten und Cristina von hier wegbringen zu können.
»Bitte«, murmelte ich, während ich die Tränen zurückdrängte.
Ich lächelte bitter, ein geschlagener Mann, der einen Gott, an den er nie geglaubt hatte, mit armseligen Bitten anflehte. Ich schaute mich um, sah dieses Gotteshaus aus Schutt und Asche, Leere und Einsamkeit und wusste plötzlich, dass ich noch am selben Abend zurückgehen würde. Dazu bedurfte es keiner weiteren Wunder oder Segnungen, nur meiner Entschlossenheit, sie von hier wegzubringen und den Händen dieses verzagten, liebebedürftigen Arztes zu entreißen, der aus ihr sein Dornröschen machen wollte. Eher würde ich die Villa San Antonio in Brand stecken, als zuzulassen, dass noch einmal jemand Hand an sie legte. Ich würde sie mit zu mir nehmen, um an ihrer Seite zu sterben. Hass und Wut würden mir den Weg weisen.
Als es völlig dunkel war, verließ ich die Kapelle. Ich überquerte das im Mondlicht lodernde Silberfeld, ging auf den Pfad mit den Bäumen zurück und folgte im Finstern dem Bewässerungsgraben, bis ich in der Ferne die Lichter der Villa San Antonio und der Türme und Mansarden um den See herum erblickte. Beim Sanatorium angelangt, zog ich gar nicht die Klingel am Gittertor, sondern sprang über die Mauer und schlich in der Dunkelheit durch den Park. Auf der Rückseite steuerte ich einen Hintereingang an. Er war verschlossen, aber ich zögerte keine Sekunde, die Scheibe mit dem Ellbogen zu zertrümmern, um an die Klinke zu gelangen. Ich trat auf den Korridor, wo ich Stimmen und Gemurmel hörte und den von der Küche heraufsteigenden Duft einer Brühe roch. Ich ging durch das Erdgeschoss bis zum hintersten Zimmer. Hier hatte der gute Arzt Cristina eingeschlossen, zweifellos im Wahn, seine schlafende Schöne auf immer in einem Limbus von Narkotika und Riemen festzuhalten.
Ich hatte damit gerechnet, dass die Tür abgeschlossen wäre, aber die Klinke gab unter meiner Hand nach, die vor Aufregung zitterte. Ich stieß die Tür auf und trat ein. Als Erstes sah ich meinen eigenen Atem vor mir in der Luft schweben. Dann sah ich die blutigen Fußspuren auf dem weißen Fliesenboden. Das hohe Fenster zum Park stand weit offen, die Vorhänge bauschten sich im Wind. Das Bett war leer. Als ich näher trat, sah ich, dass die Riemen, mit denen der Arzt und die Schwestern Cristina festgebunden hatten, säuberlich durchgeschnitten waren, als wären sie aus Papier. Ich sprang in den Park hinaus und sah im Schnee rote Spuren leuchten, die sich zur Mauer hin entfernten. Dort angekommen, tastete ich sie ab und fand wieder Blut. Ich kletterte hinauf und sprang auf der anderen Seite hinunter. Die ungleichmäßigen Fußspuren führten in Richtung Dorf. Ich erinnere mich, dass ich losrannte.
Ich folgte den Spuren bis zu dem Park, der den See umgab. Der Vollmond ließ die große Eisfläche erstrahlen. Dort erblickte ich sie. Langsam humpelte sie auf den gefrorenen See hinaus, eine Blutspur zurücklassend. Ihr Nachthemd flatterte im Wind. Als ich das Ufer erreichte, war Cristina schon rund dreißig Meter weit auf den See hinausgelangt. Ich rief ihren Namen, und sie blieb stehen. Langsam drehte sie sich um und lächelte, während sich unter ihren Füßen ein Netz aus Rissen spann. Ich sprang aufs Eis und hörte die gefrorene Fläche unter meinen Schritten knacken. Trotzdem ging ich auf Cristina zu. Reglos stand sie dort und sah mir entgegen. Die Risse unter ihren Füßen wuchsen sich zu einem Geflecht schwarzer Kapillaren aus. Das Eis unter mir gab nach, und ich stürzte der Länge nach hin.
»Ich liebe dich«, hörte ich sie sagen.
Ich kroch zu ihr, aber die Spalten weiteten sich unter meinen Händen und bildeten einen Ring um Cristina. Nur wenige Meter trennten uns noch, als ich das Eis unter ihr brechen hörte. Vor ihr tat sich ein schwarzer Schlund auf und verschluckte sie wie eine Grube voll Teer. Sowie sie unter der Oberfläche verschwunden war, fügten sich die Schollen wieder zusammen und verschlossen die Öffnung. Die Strömung trieb ihren Körper unter der Eisschicht ein paar Meter weiter. Ich kroch zu der Stelle, wo die Falle über ihr zugeschnappt war, und schlug mit aller Kraft auf das Eis ein. Unter der durchscheinenden
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