Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
brach, und verwehte das Echo des Schusses. Ich stieß das Gitter auf, teilte den dunklen Stoffvorhang, der das Innere verbarg, sodass das Laternenlicht durch den Eingang hereinfallen konnte, und trat in die Werkstatt von Sanabre und Söhne. Die tiefe, schmale Halle war voll mit im Dunkeln wie eingefroren wirkenden Skulpturen, deren Gesichter zum Teil erst halb behauen waren. Ich ging einige Schritte weiter, inmitten von Marienstatuen und Madonnen mit kleinen Knaben auf dem Arm, weißen Damen mit Marmorrosen in der Hand und zum Himmel erhobenem Blick sowie Steinblöcken, in denen sich Blicke abzuzeichnen begannen. Man konnte den Steinstaub riechen. Außer diesen Bildnissen war niemand da. Als ich eben wieder gehen wollte, sah ich sie ganz hinten im Atelier. Eine Hand ragte aus dem Profil eines Altaraufsatzes mit einer Figurengruppe. Langsam ging ich näher heran, und Zentimeter um Zentimeter trat die Silhouette hervor. Ich blieb davor stehen und betrachtete diesen großen Engel des Lichts – es war der gleiche wie der, den der Patron am Revers getragen und den ich im Arbeitszimmer auf dem Truhenboden gefunden hatte. Die Figur war gut und gern zweieinhalb Meter hoch, und ich erkannte ihre Gesichtszüge und vor allem das Lächeln. Zu ihren Füßen stand ein Grabstein, auf dem eingraviert war:
David Martín
1900-1930
Ich lächelte. Mein Freund Diego Marlasca hatte unbestreitbar Sinn für Humor und Freude an Überraschungen. Ich dachte, es war kaum verwunderlich, dass er in seinem Eifer den Ereignissen vorgegriffen und mir ein so anrührendes Denkmal gesetzt hatte. Ich kniete vor dem Grabstein nieder und strich mit den Fingern über meinen Namen. Hinter mir vernahm ich leichte, gemessene Schritte. Ich wandte mich um und erblickte ein vertrautes Gesicht. Der Junge trug denselben schwarzen Anzug wie vor einigen Wochen, als er mir auf dem Paseo del Born gefolgt war.
»Die Señora wird Sie jetzt empfangen«, sagte er.
Ich nickte und stand auf. Der Junge reichte mir seine Hand, und ich ergriff sie.
»Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte er, während er mich zum Ausgang führte.
»Habe ich auch nicht«, murmelte ich.
Er brachte mich ans Ende der Gasse. Dort konnte man den Strand erahnen, verborgen hinter einer Reihe heruntergekommener Lagerhäuser und einem auf einem Abstellgleis verlassenen, unkrautüberwucherten Güterzug. Die Wagen waren verrostet, die Lok nur noch ein Skelett aus Heizkessel und Gestänge, das auf seine Verschrottung wartete.
Am Himmel guckte der Mond durch die Risse in einer bleiernen Wolkendecke. Auf dem Meer konnte man zwischen den Wellen einige Frachtdampfer und vor dem Strand von Bogatell einen Friedhof von Fischerbooten und Küstenschiffen ausmachen, die, von der stürmischen See ausgespuckt, hier gestrandet waren. In der anderen Richtung erstreckte sich die Barackensiedlung des Somorrostro-Viertels wie eine Schlackenschicht im Rücken der Festung industrieller Finsternis. Die Wellen brachen sich wenige Meter vor der vordersten Reihe der Holz- und Schilfhütten. Zwischen den Dächern dieses Elendsviertels, das wie eine endlose menschliche Mülldeponie die Stadt vom Meer trennte, zogen weiße Rauchwolken dahin. Der Gestank nach verbranntem Abfall lag in der Luft. Wir drangen in die Straßen dieser vergessenen Stadt ein, Durchgänge zwischen Häusern aus gestohlenen Backsteinen, aus Lehm und angespülten Balken. Ungeachtet der misstrauischen Blicke der Anwohner führte mich der Junge immer tiefer hinein. Tagelöhner ohne Tagelohn, Zigeuner, die aus ähnlichen Siedlungen an den Hängen des Montjüic oder vor den Massengräbern des Friedhofs von Can Tunis vertrieben worden waren, Kinder und Greise, für die es keine Hoffnung mehr gab. Alle beobachteten mich argwöhnisch. Wir kamen an Frauen unbestimmbaren Alters vorbei, die vor den Baracken in Blechgefäßen Wasser oder Essen über dem Feuer wärmten. Wir blieben bei einem weißlichen Haus stehen, vor dessen Tür ein Mädchen mit Greisinnengesicht und einem durch Polio gelähmten Bein einen Eimer schleppte, in dem sich etwas Gräulich-Schleimiges bewegte. Aale. Der Junge zeigte auf die Tür. »Hier ist es.«
Ich warf einen letzten Blick auf den Himmel. Der Mond verbarg sich wieder zwischen den Wolken, und vom Meer her näherte sich ein Schleier von Dunkelheit.
Ich trat ein.
16
Ihr Gesicht war von Erinnerungen gezeichnet, und ihre Augen konnten ebenso gut zehn wie hundert Jahre alt sein. Sie saß an einem kleinen Feuer und
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