Der 3. Grad
Erster Teil
1
Es begann als wolkenloser, windstiller, träger Aprilmorgen – und wurde der erste Tag der schlimmsten Woche meines Lebens.
Ich joggte unten an der Bucht mit meiner Border-Collie-Hündin Martha. Das ist mein Sonntagmorgen-Ritual: in aller Herrgottsfrühe aus den Federn, und dann meinen vierbeinigen Lebensabschnittspartner auf den Beifahrersitz des Ford Explorer gepackt. Ich versuche gewissenhaft, mindestens drei Meilen zu absolvieren, ehe mir die Puste ausgeht, von Fort Mason bis runter zur Brücke und zurück. Gerade genug, um mich davon zu überzeugen, dass ich mit meinen sechsunddreißig Jahren immer noch annähernd fit bin.
An diesem Morgen leistete mir meine gute Freundin Jill Gesellschaft. Otis, ihr junger Labrador, brauchte Auslauf. Das hatte sie jedenfalls behauptet, aber wahrscheinlich wollte sie sich nur ein bisschen aufwärmen für ihren Radsprint auf den Mount Tamalpais, oder was immer Jill für den Rest des Tages an
ernsthaften
sportlichen Aktivitäten geplant hatte.
Es war schwer zu glauben, dass erst fünf Monate vergangen waren, seit Jill ihr Baby verloren hatte. Jetzt stand sie vor mir, schlank und durchtrainiert wie eh und je.
»Na, wie war's gestern Abend?«, fragte sie, während sie seitwärts neben mir hertrabte. »Es geht das Gerücht, Lindsay hätte ein Date gehabt.«
»Man könnte es schon ein Date nennen...«, sagte ich, den Blick voraus auf die Anhöhen von Fort Mason gerichtet, die für meinen Geschmack viel zu langsam näher rückten. »Man könnte Bagdad auch ein Urlaubsparadies nennen.«
Sie zuckte zusammen. »Tut mir Leid, dass ich es erwähnt habe.«
Die ganze Zeit hatte ich vergeblich versucht, vor der unerfreulichen Erinnerung an Franklin Fratelli davonzulaufen, den »Asset-Remarketing«-Guru – was nur ein schicker Name dafür war, dass er Dotcom-Pleitiers, die mit den Ratenzahlungen für ihre BMWs und Rolex-Uhren nicht mehr nachkamen, finstere Gestalten auf den Hals hetzte. Zwei Monate lang hatte Fratelli mich jedes Mal, wenn er im Justizpalast war, in meinem Büro heimgesucht, bis er mich endlich so weit zermürbt hatte, dass ich ihn für den Samstagabend zu mir zum Essen eingeladen hatte (zu den Schmorrippchen in Portwein, die ich wieder in den Kühlschrank verfrachten musste, nachdem er sich in letzter Minute abgeseilt hatte).
»Ich bin versetzt worden«, sagte ich, ohne aus dem Tritt zu kommen. »Die Fragen kannst du dir sparen, ich rücke keine Details raus.«
Am Ende von Marina Green liefen wir aus und blieben schließlich stehen. Während ich mir die Lungen aus dem Leib japste, hopste unsere Mary Decker-Slaney auf und ab, als könnte sie locker noch mal eine Runde laufen.
»Ich weiß nicht, wie du das machst«, sagte ich, die Hände auf die Knie gestützt und nach Luft ringend.
»Meine Oma«, meinte sie und dehnte dabei ihre Kniesehnen. »Als sie sechzig war, hat sie angefangen, jeden Tag fünf Meilen zu gehen. Jetzt ist sie neunzig, und wir haben keine Ahnung, wo sie inzwischen steckt.«
Wir mussten beide lachen. Es tat gut, zu sehen, wie die alte Jill allmählich wieder zum Vorschein kam. Es tat gut, zu hören, dass sie das Lachen nicht verlernt hatte.
»Wie wär's mit einem Mochaccino?«, fragte ich. »Martha lädt uns ein.«
»Geht nicht. Steve kommt jeden Moment aus Chicago zurück. Er will nur rasch seinen Koffer abstellen und sich umziehen und dann mit mir zur Dean-Friedrich-Ausstellung im Legion-of-Honor-Museum radeln. Du weißt ja, wie der kleine Racker ist, wenn er nicht regelmäßig seinen Auslauf kriegt.«
Ich runzelte die Stirn. »Irgendwie fällt es mir schwer, mir Steve als kleinen Racker vorzustellen.«
Jill nickte. Sie zog ihr Sweatshirt aus und reckte die Arme in die Luft.
»Jill«, stieß ich hervor, »was ist
das
?«
Unter dem Träger ihres Sport-BHs lugten mehrere kleine, dunkle Blutergüsse hervor. Sie sahen aus wie Fingerabdrücke.
Sie warf sich das Sweatshirt über die Schulter. »Hab mir die Schulter angehauen, als ich aus der Dusche gestiegen bin«, sagte sie abwehrend. »Aber du solltest erst mal die
Dusche
sehen«, fügte sie augenzwinkernd hinzu.
Ich nickte, aber irgendetwas an den blauen Flecken behagte mir ganz und gar nicht. »Bist du sicher, dass du keine Lust auf einen Kaffee hast?«, fragte ich.
»Tut mir Leid... Aber du kennst ja den gestrengen Herrn. Wenn ich
ein
Mal fünf Minuten zu spät komme, ist das für ihn schon eine schlechte Angewohnheit.« Jill pfiff nach Otis und begann zu ihrem Wagen
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