Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
nicht diesen Zug genommen, wollte ich schon nach Hause gehen, als ich beschloss, noch durch sämtliche Abteilfenster zu sehen. Im vorletzten Wagen fand ich sie, mit verlorenem Blick dasitzend und den Kopf an die Scheibe gelehnt. Ich stieg ein und blieb auf der Schwelle zum Abteil stehen. Als sie meine Schritte vernahm, wandte sie sich um und schaute mich ohne Überraschung und mit einem schwachen Lächeln an. Dann stand sie auf und umarmte mich schweigend.
»Willkommen«, sagte ich.
Sie hatte kein weiteres Gepäck bei sich als einen kleinen Koffer. Ich gab ihr die Hand, und wir traten auf den jetzt menschenleeren Bahnsteig hinaus. Bis wir zum Ausgang kamen, sprachen wir kein Wort. Dort sahen wir, dass es wie aus Eimern goss und die Reihe Taxis, die bei meinem Eintreffen noch da gestanden hatte, sich verflüchtigt hatte.
»Ich will heute Nacht nicht in die Villa Helius zurück, David. Noch nicht.«
»Du kannst bei mir bleiben, wenn du willst, oder wir können dir ein Hotelzimmer suchen.«
»Ich will nicht allein sein.«
»Gehen wir zu mir. Wenn ich von etwas mehr als genug habe, sind es Zimmer.«
Ich erblickte einen Gepäckträger, der vor der Tür stand und sich unter einem riesigen Schirm das Gewitterspektakel ansah. Ich bot ihm für den Schirm das Fünffache des Kaufpreises. Er überreichte ihn mir mit entwaffnendem Lächeln.
Unter dem Schirm wagten wir uns in die Sintflut hinaus in Richtung Haus mit dem Turm, wo wir zehn Minuten später dank der Windstöße und Pfützen klatschnass eintrafen. Durch das Gewitter war die Straßenbeleuchtung ausgefallen, und die Gassen waren in ein nasses Dunkel getaucht, in dem hier und da in Balkontüren und in Eingängen Öllampen oder Kerzen aufschienen. Ich bezweifelte nicht einen Augenblick, dass die prachtvolle Installation in meiner Wohnung als eine der ersten versagt hatte. Wir mussten die Treppe im Dunkeln hinaufsteigen, und als ich die Wohnungstür aufschloss, erschien das Innere im Widerschein der Blitze so düster und ungastlich wie nie.
»Wenn du es dir anders überlegt hast und wir lieber ein Hotel suchen sollen …«
»Nein, ist schon gut. Sei unbesorgt.«
Ich ließ Cristinas Koffer im Vorraum stehen und holte aus der Küche eine Schachtel mit Kerzen aller Art. Eine um die andere zündete ich sie an und klebte sie auf Teller und in Gläser. Cristina schaute mir von der Tür aus zu.
»Nur eine Minute«, sagte ich. »Ich habe mittlerweile Übung darin.«
Ich verteilte die Kerzen in den Zimmern, im Korridor und in allen Ecken, bis die ganze Wohnung in schwachgoldenen Schatten lag.
»Wie in einer Kathedrale«, sagte Cristina.
Ich führte sie zu einem der Schlafzimmer, das ich nie benutzte, aber sauber und bezugsbereit hielt, seit Vidal einmal, zu betrunken für die Rückkehr in seinen Palast, die Nacht hier verbracht hatte.
»Ich bringe dir gleich frische Handtücher. Wenn du nichts zum Umziehen hast, steht dir der ganze unheimliche Belle-Époque-Fundus zur Verfügung, den die ehemaligen Eigentümer in den Schränken zurückgelassen haben.«
Meine plumpen Anflüge von Humor entlockten ihr kaum ein Lächeln, sie nickte nur. Ich ließ sie auf der Bettkante sitzen, während ich eilends Handtücher holte. Als ich zurückkam, saß sie noch genauso da, reglos. Ich legte die Tücher neben sie aufs Bett und stellte ihr ein paar Kerzen in die Nähe, damit sie wenigstens ein bisschen Licht hatte.
»Danke«, murmelte sie.
»Während du dich umziehst, mache ich eine heiße Brühe.«
»Ich habe keinen Hunger.«
»Sie wird dir aber guttun. Wenn du irgendwas brauchst, lass es mich wissen.«
Ich ließ sie allein und ging in mein Zimmer, um aus meinen durchnässten Schuhen zu schlüpfen. Dann setzte ich Wasser auf und wartete in der Veranda, bis es kochte. Der Regen trommelte immer noch wütend an die großen Scheiben und rauschte durch die Abflüsse von Turm und Dach, dass es klang, als laufe dort jemand herum. Draußen lag das Ribera-Viertel in fast vollkommener Dunkelheit.
Nach einer Weile hörte ich die Tür von Cristinas Zimmer aufgehen und ihre Schritte näher kommen. Sie war in einen weißen Morgenmantel geschlüpft und hatte sich ein wollenes Schultertuch übergeworfen, das nicht recht zu ihr passte.
»Ich habe es mir aus einem deiner Schränke ausgeliehen«, sagte sie. »Hoffentlich stört es dich nicht.«
»Du kannst es behalten, wenn du willst.«
Sie setzte sich in einen Sessel und ließ den Blick durch den Raum schweifen, bis er am Stapel auf dem
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