Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
Tisch hängen blieb. Sie sah mich fragend an, und ich nickte.
»Ich habe ihn vor ein paar Tagen zu Ende gebracht.«
»Und dein eigener?«
Zwar empfand ich beide Manuskripte als meine eigenen, aber ich nickte einfach.
»Darf ich?« Sie nahm eine Seite und hielt sie ins Licht. »Natürlich.«
Sie las schweigend, ein mattes Lächeln auf den Lippen.
»Pedro wird niemals glauben, dass er das geschrieben hat«, sagte sie. »Vertrau mir.«
Cristina legte die Seite auf den Stapel zurück und schaute mich lange an.
»Ich habe dich vermisst«, sagte sie. »Ich wollte es nicht, aber es war so.«
»Ich dich auch.«
»Es gab Tage, an denen ich vor dem Besuch im Sanatorium zum Bahnhof gegangen bin und auf dem Bahnsteig auf den Zug aus Barcelona gewartet habe, weil ich dachte, du würdest vielleicht kommen.«
Ich hatte einen Kloß im Hals.
»Ich dachte, du willst mich nicht sehen«, sagte ich.
»Das dachte ich auch. Mein Vater hat oft nach dir gefragt, weißt du. Er hat mich gebeten, mich um dich zu kümmern.«
»Dein Vater war ein guter Mensch. Ein guter Freund.«
Sie nickte lächelnd, aber ich sah, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten.
»Am Ende hat er sich an nichts mehr erinnern können. An manchen Tagen hat er mich mit meiner Mutter verwechselt und mich um Verzeihung gebeten für seine Jahre im Gefängnis. Dann vergingen ganze Wochen, in denen er kaum merkte, dass ich da war. Mit der Zeit dringt die Einsamkeit in einen ein und verlässt einen nicht mehr.«
»Es tut mir leid, Cristina.«
»In den letzten Tagen dachte ich, es gehe ihm besser. Er konnte sich wieder an gewisse Dinge erinnern. Ich hatte von zuhause ein Fotoalbum mitgenommen und zeigte ihm noch einmal, wer wer war. Es gab auch ein altes Foto vor der Villa Helius, auf dem ihr beide im Auto sitzt. Du am Steuer, und mein Vater zeigt dir, wie man fährt. Ihr lacht beide. Willst du es sehen?«
Ich zögerte, traute mich aber nicht, diesen Augenblick zunichte zu machen.
»Natürlich …«
Cristina ging zu ihrem Koffer und kam mit einem kleinen ledergebundenen Buch zurück. Sie setzte sich neben mich und begann die Seiten mit alten Porträts, Zeitungsausschnitten und Postkarten durchzublättern. Wie mein Vater hatte auch Manuel kaum lesen und schreiben gelernt, und seine Erinnerungen bestanden aus Bildern.
»Schau, da seid ihr.«
Ich betrachtete das Foto aufmerksam und erinnerte mich genau an den Tag, da mich Manuel in Vidals erstes Auto einsteigen ließ und mir die Anfangsgründe der Fahrkunst beibrachte. Dann waren wir bis zur Calle Panamá und danach, mit fünf Stundenkilometern, was mir schwindelerregend schnell vorkam, zur Avenida Pearson gefahren, und auf dem Rückweg durfte ich mich ans Lenkrad setzen.
»Sie sind ein richtiges Ass am Steuer«, hatte Manuel gesagt. »Wenn Ihre Erzählungen einmal nicht mehr laufen, sollten Sie eine Zukunft als Rennfahrer in Betracht ziehen.«
Ich lächelte, als ich mich an diesen vergessen geglaubten Moment erinnerte. Cristina übergab mir das Album.
»Behalt es. Mein Vater hätte es gern bei dir gewusst.« »Es gehört dir, Cristina. Ich kann es nicht annehmen.«
»Auch mir wäre es lieber, wenn es bei dir ist.« »Es ist also hier hinterlegt, bis du es wieder holen willst.«
Ich begann es durchzublättern und betrachtete Gesichter, an die ich mich erinnerte, und andere, die ich noch nie gesehen hatte. Da gab es ein Hochzeitsfoto von Manuel Sagnier und seiner Frau Marta, der Cristina so sehr glich, Studioaufnahmen von ihren Onkeln, Tanten und Großeltern, von einem Umzug durch eine Straße des Raval und von der Badeanstalt San Sebastian am Strand der Barceloneta. Manuel hatte alte Postkarten von Barcelona und Zeitungsausschnitte mit Bildern eines blutjungen Vidal gesammelt, der im Eingang des Hotels Florida ganz oben auf dem Tibidabo posierte, und ein anderes, auf dem man ihn in den Räumen des Kasinos von Rabasada am Arm einer atemberaubenden Schönheit sah.
»Dein Vater hat Don Pedro verehrt.«
»Er hat immer gesagt, ihm hätten wir alles zu verdanken«, antwortete Cristina.
Ich reiste weiter durch die Erinnerungen des armen Manuel, bis ich auf ein Foto stieß, das nicht zu den anderen passen wollte. Darauf war ein Mädchen von acht oder neun Jahren zu sehen, das einen in die silbern leuchtende Meeresfläche hinausführenden Holzsteg entlangspazierte. Sie ging an der Hand eines Mannes in weißem Anzug, der nicht mehr ganz auf dem Bild war.
Am Ende des Stegs konnte man ein kleines Segelboot
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