Die kalte Nacht des Hasses
Prolog
Schwesternliebe
Eines eisigen Dezembermorgens fand die ältere Tochter endgültig heraus, dass ihre Mutter sie wirklich nicht liebte. Sie war noch nicht einmal elf, als sie an jenem Tag die Augen aufschlug. Das Licht stahl sich durch die Jalousien vor dem Fenster der Dachgaube neben ihr, grau und neblig wie ein Geist. Auf dem Dachboden war es so früh am Morgen eiskalt und sie zitterte und kroch tiefer unter ihre dicke Quiltdecke.
In völliger Unkenntnis, dass endlich Weihnachten war, schlief ihre kleine Halbschwester friedlich neben ihr, sie schnarchte leise aufgrund einer verstopften Nase. Sissy war acht Jahre alt und alle waren sich einig, dass sie das süßeste kleine Ding war, so viel hübscher als ihr Bruder oder die ältere Halbschwester. Oh, ja, die süße kleine Sissy war wunderhübsch, das stimmte, und es machte die ältere Schwester krank, wie alle sich über Sissy begeisterten, als wäre sie etwas ganz Besonderes. Und sie taten es, egal wo Mama sie mit hinnahm, Wal-Mart oder McDonald’s oder Pizza Hut. Egal wohin sie gingen, es war überall gleich. Alle wollten Sissys Haar streicheln. Die ältere Schwester hasste Sissys blödes seidiges, gelbes Haar. Sie hasste auch alles andere an Sissy, vor allem das kleine unschuldige Lächeln, das in Wahrheit überhaupt nicht unschuldig war. Es schien nie jemandem aufzufallen außer der älteren Schwester, aber der jedes Mal.
Die ältere Schwester drehte ihrer oh-so-niedlichen kleinen Schwester den Rücken zu und stemmte sich auf den Ellenbogen hoch. Sie angelte nach der Zugleine und öffnete die Jalousie etwa dreißig Zentimeter, dann schaute sie begeistert nach draußen auf das Winterwunderland. Der Schnee fiel sanft und sie sah zu, wie er heruntersegelte, und plötzlich hierhin oder dahin huschte, wenn eine Windbö kam. Sie hatte es auch letzte Nacht gesehen, zur Schlafenszeit, im Schein der Nachtleuchte neben der alten Scheune. Manchmal mochte sie so viel Kälte nicht, an dem Ort, wo sie mit Mama und ihrem richtigen Daddy gelebt hatte, war es das ganze Jahr über warm gewesen. Jetzt lebte sie an diesem kälteren Ort, seit Mama wieder geheiratet und zwei weitere Kinder namens Sissy und Bubby bekommen hatte. Hier hatte auch niemand einen Akzent, so wie der, den sie von ihrem Daddy übernommen hatte, der aus einem anderen Land stammte, und manchmal machten andere Kinder sich über sie lustig, also versuchte sie, es sich abzugewöhnen.
Es hatte fast jeden Tag geschneit, seit die Weihnachtsferien begonnen hatten, und hohe Schneewehen ließen ihren Garten aussehen wie einen riesigen Geburtstagskuchen, der mit einer geschmeidigen, schimmernden Vanillecreme überzogen war. Sie konnte kaum den Schneemann ausmachen, den sie gestern gebaut hatte. Sie sah eine Karottennase und zwei rote Äpfelchen als Augen, aber Mamas rosa-karierte Schürze um seine Hüfte war von Weiß bedeckt.
Schnee türmte sich auch auf dem Fenstersims und die Glasscheiben waren mit Eiskristallen bedeckt, die aussahen wie die weiße Spitze, die Mama um das Unterteil von Sissys Miniatur-Weihnachtsbaum gelegt hatte. Die ältere Schwester wandte sich vom Fenster ab und betrachtete den kleinen Baum, der auf Sissys Nachttisch stand. Winzige weiße Lichterchen blinkten in den dämmrigen Morgen und ließen die Strasskrönchen, die an den Zweigen hingen, wie richtige Diamanten glitzern. Sissy hatte bei Schönheitswettbewerben für Babys und Kleinkinder gewonnen, elf Kronen insgesamt. Jedes Mal, wenn Sissy teilnahm, hatte sie den ersten Platz belegt. Sie bekam auch Pokale, wenn sie gewann, und bunte Schärpen aus rotem und blauem und gelbem und grünem Satin, aber meistens rot. Sissys Daddy hatte im Wohnzimmer eigens Regale aufgestellt, um ihre Preise und Pokale auszustellen. Sissy war auch sein Liebling.
Als die Ältere ihren Mut zusammengenommen hatte, um Mama zu fragen, ob sie auch so einen kleinen Baum haben könnte, hatte Mama gesagt, sie sollte sich an Sissys Baum erfreuen und aufhören zu quaken. Wenn sie als Baby auch ein paar Wettbewerbe gewonnen hätte, hätte sie jetzt auch ein paar Krönchen, die man in einen Baum hängen konnte. Danach war die ältere Schwester unter die hintere Veranda gekrabbelt und hatte lange – aber leise – geweint, damit niemand sie hörte.
Jetzt wurde sie wütend, weil sie an diesen Tag zurückdachte. Sie runzelte die Stirn und beugte sich dicht an Sissys Ohr, dann flüsterte sie durch zusammengebissene Zähne: »Ich hasse dich mehr als Gift, du blödes
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