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Batmans Schoenheit

Batmans Schoenheit

Titel: Batmans Schoenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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eine neue, unorthodoxe Position zu beziehen.
    Cheng und Lena waren gerade dabeigewesen, in eine Seitengasse zu wechseln, um eben jener Absperrung auszuweichen. Sie gehörten nicht zu den Gaffern, die der Einsatz eines derartigen Geräts interessierte. Sie waren beide aus naheliegenden Gründen keine »kleinen Buben«. Als nun aber genau in dem Augenblick, da sie abbiegen wollten, die dottergelbe, vollständig austeleskopierte Kranmaschine aus ihrer Stellung brach und der am Seil hängende Bauteil mit einem Mal zur Seite und nach hinten schwang, da blieben die beiden entgeistert stehen und folgten wie alle anderen den kaum nachvollziehbaren Kräften. Kräfte, die dazu führten, daß der Kran von einer beabsichtigten Neigung in eine unbeabsichtigte überging.
    Die wichtigste physikalische Größe in solchen Momenten ist natürlich die Schlamperei, auch wenn bei derartigen Anlässen gerne das Bild vom Zusammentreffen vieler unglücklicher Umstände bemüht wird. Was ja auch stimmt. Und doch kommt es in erster Linie auf die Schlamperei an. Sie ist es, welche ein Leben trockener und mitunter herzloser Planungen auszuhebeln versteht. Man verdankt ihr eine Unzahl ungewollter und hernach soviel Glück bescherender Geburten, Geburten von Kindern und anderem. Man verdankt ihr wichtige Entdeckungen, neue Kunstrichtungen, politische Wendungen, sich selbst überführende Täter und nicht zuletzt die Möglichkeit, sauber gespielte von unsauber gespielten Klavierstücken zu unterscheiden. Vor allem aber schafft sie Arbeit für jene, welche die Folgen all der Schlampereien auszuräumen haben.
    Nun, wer auch immer hier eine Schlamperei begangen hatte, Faktum war, daß, als der Kran in das Haus krachte, die ganze Straße wackelte. Was allerdings nicht dazu führte, daß die Passanten auseinanderliefen, da sich ein jeder von ihnen in sicherer Entfernung wähnte. Doch das stimmte nicht. Im Zuge der Erschütterung hatte sich von einem der Häuser, die knapp außerhalb des abgesperrten Bereichs standen, ein Stück des Mauerwerks gelöst, der Teil einer Balustrade, ein Kopf, ja ein steinerner Kopf, irgendein spitzohriges Wesen, ein Gnom, ein Hausgeist, um es deutlich zu sagen: ein dreißig Kilo schweres Stück Naturstein, das den im vierten Stock gelegenen Balkon verlassen hatte und sich im freien Fall auf die Erde befand. Und damit in direktem Kollisionskurs mit einem fünfzehnjährigen Mädchen, das soeben genau jenen Schritt zur Seite getan hatte, der sie in die »richtige« Position brachte.
    Red, der einige Meter hinter Cheng und Lena zum Stehen gekommen war und ebenfalls nicht ohne den wohligen Schrecken des vermeintlichen »Dabeiseins in sicherer Entfernung« das Umstürzen des Autokrans verfolgt hatte, konnte wohl kaum inmitten des Tobens das Sichlösen des Steins von solche Höhe vernommen haben. Aber er spürte es eben, wie manche ja auch den Anflug eines Insekts registrieren oder den Anflug einer Grippe. Lange, bevor sie noch da ist. Reds Instinkt ließ ihn seinen Kopf nach oben reißen, und so konnte er erkennen, wie das mächtige Stück aus seiner Verankerung geriet und in der Art kerzengerader Turmspringer über die Kante brach.
    Red schrie. Nichts Bekanntes, nicht das übliche »Achtung!« oder »Vorsicht!«, sondern er schrie in einer fremden Sprache, ohne daß er selbst hätte sagen können, in welcher eigentlich. Eine alte, eine sehr alte Sprache. Sofort drehte Cheng den Kopf, und nur diesen, zur Seite und nach oben und realisierte seinerseits das drohende Unglück.
    Wie lange braucht ein dreißig Kilo schwerer Stein, um vom vierten Stock auf dem Gehweg zu landen, beziehungsweise auf dem Menschen auf diesem Gehweg?
    Nicht sehr lange, natürlich nicht. Aber die Kürze eines derartigen Moments – in welchem das Kugelmodell des Schicksals eine unverwechselbare Bindungsstruktur erhält – ist stets lange genug, um unzählige Gedanken und Eindrücke unterzubringen. So erkannte Cheng augenblicklich die Gefahr, die für seine Stieftochter bestand, er sah Red, der die Warnung ausgerufen hatte, er sah Lena, die gebannt hinüber zu dem Kran schaute, er sah den Stein, ja, er sah die Verbindungslinie, den fadenartigen Kurs des fallenden Objekts, das alles überschaute er mit einem einzigen Blick, einem Blick, der sich aus mehreren Kameraeinstellungen zusammensetzte. Bei vollkommener Windstille und vollkommener Geräuschlosigkeit. Im Grunde hätte Cheng jetzt in Ruhe eine Zigarette rauchen können. Er hätte ein ganzes Buch lesen,

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