Batmans Schoenheit
Erwachsenen war nun mal so beschaffen, zur Eskalation neigend. Die Erwachsenen schienen, wie man so sagt, nach Watschen zu betteln. Wäre es hingegen nach ihr, Lena, gegangen, wären alle Menschen auf Pferden gesessen, um in aufrechter, würdevoller Haltung durch die Gegend zu reiten. Lenas elitäre Anschauung war also keineswegs ohne Utopie, ohne soziale Dimension. Auf jeden Menschen sollte ein Pferd kommen. Den Spruch vonwegen eines Königreiches für ein Pferd, konnte sie nur tausendfach bejahen.
Selbige Lebensrettung war allerdings nie wieder ein Thema gewesen, mit keinem Wort. Auch nicht von Ginette Rubinsteins Seite. Die ganze Sache war vergleichbar dem Küken, das in sein Ei zurückkehrt, sich darin verschließt, irgendwann verdottert, wie nie ausgebrütet. Dennoch wäre dies nun ein idealer Moment gewesen – weil jede Lebensrettung eine unsaubere Lücke, ein Ungleichgewicht bildet –, dieses Mädchen, dieses noch dazu so geliebte Wesen vor dem Tod zu bewahren. Aber dazu wäre schlichterdings Chengs verlustig gegangener Arm nötig gewesen. Alles andere, was er tun konnte, würde nicht zur rechten Zeit geschehen, hätte bloß bekundet, wie wenig der Wille zählt, wenn die Geometrie dagegenspricht.
Allerdings besagt die gleiche Geometrie, daß, wo einer nicht mehr retten kann, es nicht heißt, daß nicht ein anderer dazu in der Lage wäre. Und es entsprach ja auch exakt dem vorhandenen Kugelmodell, daß der Mann, der Red war, noch während er seine Warnung ausrief, sich quasi in den eigenen Schrei drängte und mit zwei weiten Schritten sowie einem Hechtsprung auf Lena zuflog. Einen Sekundenbruchteil, bevor der Stein sie erreichte, warf er sie zur Seite.
Solcherart geriet er nun selbst in die Fallinie des Brockens, wurde allerdings von diesem nur gestreift. Erst der Umstand des am Boden zerschellenden und in vielen Teilen durch die Luft jagenden Mauerwerks verursachte eine gröbere, aber keineswegs fatale Verletzung an Reds rechter Schädelseite. Lena hingegen blieb unverletzt. Übrigens auch Cheng, was einige Leute, die ihn gut kannten, in höchstes Erstaunen versetzte. Sie meinten, Cheng würde solche Katastrophen anziehen. Er sei geradezu verflucht, vielleicht sogar von jenem Autor der Cheng-Romane. Doch wenn man bedenkt, daß Cheng eben trotz all der abgründigen Verwicklungen immer noch am Leben war, und daß vor allem auch Lena noch immer am Leben war, konnte man doch beim besten Willen nicht von einem Fluch sprechen. Eher vom Gegenteil. Umso mehr, als auch Lenas Retter mit einer in keiner Weise lebensbedrohlichen Fraktur am Kopf und einer nicht sehr tiefen Fleischwunde am Arm davongekommen war. Das heißt, daß an diesem Tag die Wunden der Architektur bedeutend heftiger ausfielen als die der Menschen.
Und es bedeutete, daß Cheng dem Mann, der Lena gerettet und dabei das eigene Leben riskiert hatte, zu ewigem Dank verpflichtet war.
»Andere hätten einfach gerufen, aber nicht riskiert, selbst unter den Stein zu geraten«, erklärte Cheng, als er am gleichen Abend am Krankenbett des Mannes stand, der sich mit dem Namen Red vorgestellt hatte.
»Reet? Wie das Schilfrohr, nicht wahr?«
»Nein, wie die Farbe«, antwortete Red.
Cheng nickte. Es brauchte ihn nicht zu kümmern, wieso dieser Mann, der so lupenrein das Deutsch im Norden Beheimateter sprach, einen englischen Namen trug. Von ihm aus hätte er auch Cyborg Kuro-chan oder Graf Dracula heißen können, das hatte in diesem Moment einfach keine Bedeutung. (Da irrte Cheng. Die Symbolkraft eines Namens zu ignorieren, war dumm. Doch die Euphorie und die Erleichterung blendeten Cheng, das tun sie meistens.)
Immerhin war Cheng noch soweit bei Verstand zu erklären: »Ich will keine großen Reden schwingen. Sie sollen für Ihre Tat nicht auch noch bestraft werden.«
»Danke«, sagte Red.
»Ich schreibe Ihnen meine Adresse und meine Telefonnummer auf. Wenn Sie möchten, rufen Sie mich bitte an. Wenn Sie nicht mögen – und ich weiß, daß manche Lebensretter sich im Nachhinein schwören, nie wieder so was zu tun –, dann ist das ebenso in Ordnung. Sollten Sie aber irgendwann meine Hilfe benötigen …«
»Verzeihen Sie«, unterbrach ihn Red, »aber Sie haben nur einen Arm.«
»Das ist richtig. Und?«
Ja, was und ? – Nun, Red wußte selbst nicht so recht, was genau er damit hatte sagen wollen. Am ehesten wohl, daß, wenn jemand schon mal ein Glied oder Organ verloren hatte, er aufpassen sollte, nicht auch noch ein weiteres
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