Baudolino - Eco, U: Baudolino
ihre Art zu denken. Versuchen wir das zu verstehen, sonst werden wir uns immer in endlosen Diskussionen verlieren. Also tun wir so, als ob die Blemmyer wie die Skiapoden wären, und was sie über die Natur Unseres Herrn denken, braucht uns nicht weiter zu kümmern.«
»Nach dem, was ich verstanden habe, teilen die Skiapoden die schreckliche Häresie des Arius«, sagte Boron, der wie immer derjenige unter ihnen war, der die meisten Bücher gelesen hatte.
»Na wenn schon«, meinte der Poet. »Mir scheint das eine Sache für Graeculi zu sein. Für uns im Norden war es immer viel wichtiger zu wissen, wer der wahre Papst und wer der Gegenpapst war – dabei hing alles von einer Laune meines verstorbenen Herrn Rainald ab. Jeder hat seine Fehler. Baudolino hat recht, tun wir einfach so, als ob nichts wäre, und bitten wir den flotten Knaben hier, uns zu seinem Diakon zu führen, der vielleicht kein großer Herr ist, aber immerhin schon mal Johannes heißt.«
Sie baten also Gavagai, sie nach Pndapetzim zu führen, und er machte sich mit gebremsten Sprüngen auf den Weg, damit die Pferde ihm folgen konnten. Nach zwei Stunden kamen sie ans Ende des Farnkrautmeeres und gelangten in eine steinige Zone, die mit Öl- und Obstbäumen bestellt war. Unter den Bäumen saßen, neugierig aufschauend, Wesen mit menschlichen Zügen, die ihnen grüßend zuwinkten, aber nur stammelnde Laute von sich gaben. Es waren, wie Gavagai erklärte, die Zungenlosen, die außerhalb der Stadt lebten, weil sie Messalianer waren, Leute, die glaubten, man könne allein durch ständiges stilles Gebet in den Himmel kommen, ohne die Sakramente zu vollziehen, ohne sich in Werken der Barmherzigkeit oder anderen Arten der Selbstkasteiung zu üben, auch ohne andere Formen des Gottesdienstes. Deswegen gingen sie nie in die Kirchen von Pndapetzim. Sie wurden von allen scheel angesehen,weil sie behaupteten, auch Arbeit sei ein gutes Werk und darum unnütz. Sie lebten in größter Armut und ernährten sich von den Früchten jener Bäume, von denen sie sich ohne Scheu einfach nahmen, was sie brauchten, obwohl sie der ganzen Gemeinde gehörten.
»Sonst sind sie wie ihr, nicht wahr?« frotzelte der Poet.
»Wie wir, wenn nix sage.«
Die Berge rückten immer näher, und je näher sie kamen, desto besser erkannte man ihre Natur. Am Ende der steinigen Zone erhoben sich zahlreiche glatte gelbliche Kegel, die aussahen wie aus Schlagsahne, fand Colandrino, oder nein, wie aus Zuckerwatte, ach was, wie schmale Sandhaufen, dicht an dicht nebeneinandergesetzt wie die Bäume in einem Wald. Dahinter ragte auf, was aus der Ferne wie hochgereckte Finger ausgesehen hatte: eine Reihe von mächtigen Zinnen, die auf der Spitze etwas wie Hüte trugen, liegende Felsbrocken aus dunklerem Stein, bald in Form einer Kapuze, bald eher als flache Mütze, die vorne und hinten überstand. Beim Näherkommen erwiesen sich die Felsen als weniger spitz, aber jeder von ihnen erschien mit Löchern durchbohrt wie ein Bienenhaus, bis man begriff, dass diese Löcher Höhlen waren, in den Stein gehauene Wohnungen, zu denen man auf kleinen hölzernen Leitern gelangte, die sich von Absatz zu Absatz miteinander verbanden und an jedem dieser Kegel ein luftiges Netzwerk bildeten, auf dem die Bewohner, die von weitem wie Ameisen aussahen, behende auf und ab kletterten.
Im Zentrum der Stadt gab es richtige Häuser, ja mehrgeschossige Häuserzeilen, auch sie in den Felsen gehauen, aus dem nur einige obere Fassadenteile hervorsprangen. Weiter hinten erhob sich ein imposanteres Felsmassiv von unregelmäßiger Form, gleichfalls ein einziger Bienenstock voller Höhlen, aber mit eher geometrischen Öffnungen ähnlich Fenstern und Türen und in manchen Fällen mit kleinen Altanen, Logen oder Balkonen davor. Einige Öffnungen waren mit bunten Tüchern verhängt, andere mit geflochtenen Strohmatten. Kurzum, man befand sich inmitten einer ziemlich wilden Gebirgslandschaft undzugleich im Zentrum einer volkreichen und geschäftigen Stadt, auch wenn diese gewiss nicht so großartig war, wie unsere Reisenden sie erwartet hatten.
Dass die Stadt geschäftig und volkreich war, sah man an der Menge, die, man kann zwar nicht sagen: ihre Straßen und Plätze, aber die Räume zwischen Kegel und Klippe, Massiv und Zinne belebte. Es war eine bunte Menge, durchmischt mit Hunden, Eseln und vielen Kamelen, jenen Tieren, die unsere Freunde schon zu Beginn ihrer Reise gesehen hatten, aber noch nie in so großer Zahl und Vielfalt
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