Baudolino - Eco, U: Baudolino
Hypatia gesehen hat, die mit einem Einhorn namens Akazio herumläuft, wie sagt sie dann?«
»Genau so, wie du gesagt hast, sie sucht die Hypatia, die mit dem Einhorn namens Akazio herumläuft.«
Hätte Gavagai so geantwortet, wäre Baudolino versucht gewesen, ihm eine zu langen. Nicht so bei Hypatia, bei ihr dachte Baudolino im Gegenteil, wie wunderbar ein Ort sein musste, wo alle Hypatien Hypatia hießen.
»Ich brauchte einige Tage, Kyrios Niketas, bis ich begriff, wer die Hypatien wirklich waren ...«
»Also habt ihr euch weiter gesehen, nehme ich an.«
»Jeden Tag, oder fast. Dass ich nicht mehr darauf verzichten konnte, sie zu sehen und ihr zuzuhören, wird dich nicht überraschen, aber mich erfüllte mit Staunen und mit einem unendlichen Stolz, dass auch sie glücklich war, michzu sehen und mir zuzuhören. Ich war ... ich war wieder wie ein Kleinkind geworden, das nach der Mutterbrust sucht und weint, wenn die Mutter nicht da ist, weil es fürchtet, dass sie nicht mehr zurückkehrt.«
»Das kommt auch bei Hunden vor, wenn ihr Herr nicht da ist. Aber diese Sache mit den Hypatien macht mich neugierig. Vielleicht weißt du ja, oder weißt es auch nicht, dass jene erste Hypatia wirklich gelebt hat, wenn auch nicht vor Tausenden von Jahren, sondern vor ungefähr acht Jahrhunderten, und zwar im ägyptischen Alexandria, zu der Zeit, als das Reich von Theodosios und dann von Arkadios regiert wurde. Sie war tatsächlich, so wird berichtet, eine Frau von großer Weisheit, versiert in Philosophie, in Mathematik und Astronomie, und sogar die Männer hingen ihr an den Lippen. Während unsere heilige Religion inzwischen in allen Teilen des Reiches triumphierte, gab es dort noch einige Widerspenstige, die das Denken der heidnischen Philosophen lebendig zu halten versuchten, besonders die Philosophie des göttlichen Platon, und ich bestreite nicht, dass sie gut daran taten, auch an uns Christen jenes Wissen weiterzugeben, das sonst verloren gegangen wäre. Nur dass dann einer der größten Christen seiner Zeit, der später ein Heiliger der Kirche wurde, Kyrillos, ein sehr gläubiger, aber auch sehr unnachgiebiger Mann, die Lehre der Hypatia als das Gegenteil des Evangeliums ansah und eine Meute von ignoranten und blutrünstigen Christen auf sie hetzte, Leute, die gar nicht wussten, was sie predigte, aber überzeugt waren, dass sie, wie Kyrillos und andere bezeugten, eine Lügnerin und liederliche Person sei. Vielleicht waren falsche Gerüchte über sie verbreitet worden, auch wenn es wahr ist, dass die Frauen sich nicht in theologische Dinge einmischen sollten. Kurzum, sie schleiften sie in einen Tempel, zogen sie nackt aus, töteten sie und zerfetzten ihren Leib mit Scherben zerbrochener Vasen, danach verbrannten sie ihren Leichnam auf einem Scheiterhaufen ... Viele Legenden haben sich um sie gebildet. Es heißt, sie sei wunderschön gewesen, aber sie habe sich der Jungfräulichkeit geweiht. Einmal habe sich ein Jüngling wahnsinnig in sie verliebt, und sie habe ihm ein Tuch mitihrem Menstruationsblut gezeigt und gesagt, dies allein sei das Objekt seiner Begierde, nicht die Schönheit als solche ... In Wirklichkeit hat nie jemand genau erfahren, was sie lehrte. Alle ihre Schriften sind verloren gegangen, die ihre Worte gesammelt hatten, sind umgebracht worden oder hatten versucht, das Gehörte zu vergessen. Alles, was wir über sie wissen, ist von denselben heiligen Vätern überliefert worden, die sie verurteilt hatten, und ehrlich gesagt, ich als Verfasser von Chroniken und Geschichtswerken neige nicht dazu, Worten allzu viel Glauben zu schenken, die ein Feind seinem Feind in den Mund legt.«
Sie hatten noch weitere Begegnungen und viele Gespräche. Hypatia dozierte, und Baudolino wünschte sich, dass ihre Lehre allumfassend und nie zu Ende wäre, um immer weiter an ihren Lippen hängen zu können. Sie antwortete auf alle seine Fragen mit furchtloser Offenheit, ohne je zu erröten; nichts war für sie Gegenstand irgendwelcher unreinen Verbote, alles war transparent.
Schließlich wagte es Baudolino, sie zu fragen, wie sich die Hypatien seit so vielen Jahrhunderten fortpflanzten. Sie antwortete, jedes Jahr wähle die Große Mutter einige von ihnen aus, die gebären sollten, und begleite sie zu den Befruchtern. Über diese äußerte sie sich sehr vage, natürlich hatte sie niemals einen von ihnen gesehen, aber auch die dem Ritus geweihten Hypatien hätten sie niemals gesehen. Sie würden bei Nacht an einen
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