Baudolino
nur habe ich nicht den Mut, sie neu zu schreiben. Ich weiß allerdings, daß Otto beim Neuschreiben etwas geändert hat...«
»Inwiefern?«
»Wenn man Ottos Chronica liest, die eine Geschichte der Welt ist, dann sieht man, daß er von uns Menschen keine gute Meinung hatte. Die Welt hatte möglicherweise gut angefangen, aber dann ist es immer schlechter mit ihr gegangen, mit einem Wort: mundus senescit, die Welt vergreist, wir nähern uns dem Ende... Doch gerade in dem Jahr, in dem Otto seine Chronica neu zu schreiben begann, hatte ihn der Kaiser gebeten, auch seine Taten zu verherrlichen, und Otto hatte sich darangemacht, die Gesta Friderici zu schreiben, die er dann nicht mehr beenden konnte, weil er nur wenig später als ein Jahr darauf gestorben ist, so daß Rahewin sie fortsetzen mußte. Nun kann man jedoch die großen Taten seines Kaisers nicht gebührend beschreiben, wenn man nicht überzeugt ist, daß mit seiner Thronbesteigung ein neues Zeitalter beginnt, daß es sich also, mit einem Wort, um eine Freudengeschichte handelt, eine historia iucunda...«
»Man kann die Geschichte der eigenen Herrscher schreiben, ohne auf Strenge zu verzichten, indem man erklärt, wie und warum sie ihrem Untergang entgegengehen...«
»Mag sein, daß du so vorgehst, Kyrios Niketas, der gute Otto
-55-
von Freising tat es jedenfalls nicht, ich berichte nur, wie die Dinge gelaufen sind. Dieser fromme Mann schrieb also
einerseits seine Chronica neu, in der die Welt schlechter und schlechter wird, und andererseits die Gesta Friderici, worin die Welt nicht anders konnte, als immer besser zu werden. Du wirst sagen: Er widersprach sich. Wenn es nur das wäre! Ich habe den Verdacht, daß in der ersten Fassung seiner Chronica die Welt noch viel schlechter war und daß Otto, um sich nicht allzusehr zu widersprechen, beim Neuschreiben seiner Chronica immer nachsichtiger mit uns armen Menschen wurde.
Und das habe ich provoziert, weil ich die erste Fassung abgeschabt hatte. Wer weiß, wenn sie erhalten geblieben wäre, hätte Otto vielleicht nicht den Mut gehabt, die Gesta zu schreiben, und da diese Gesta es sind, aufgrund deren man künftig sagen wird, was Friedrich alles getan und nicht getan hat, könnte es sein, daß letztlich, wenn ich die erste Chronica nicht abgeschabt hätte, Friedrich am Ende gar nicht all das getan hat, was wir als seine Taten rühmen.«
Mein lieber Baudolino, dachte Niketas bei sich, du bist wie der kretische Lügner: Du sagst mir, du seist ein durchtriebener Lügner und willst, daß ich dir glaube. Du willst mir einreden, daß du aller Welt Lügenmärchen erzählt hast, nur mir nicht. In all den Jahren am Hof dieser Herrscher habe ich gelernt, den Fallstricken noch raffinierterer Meisterlügner, als du einer bist, zu entgehen... Du selbst hast eingestanden, daß du nicht mehr recht weißt, wer du bist, und vielleicht liegt das gerade daran, daß du so viele Lügen erzählt hast, sogar dir selbst. Und nun verlangst du von mir, daß ich dir die Geschichte
zusammenreime, die du selbst nicht zu fassen bekommst. Aber ich bin kein Lügner deines Schlages. Mein Leben lang habe ich die Erzählungen anderer befragt, um aus ihnen die Wahrheit ans Licht zu fördern. Vielleicht erwartest du von mir eine
Geschichte, die dich davon freisprechen soll, daß du jemanden
-56-
getötet hast, um den Tod deines Friedrich zu rächen. Du konstruierst dir Schritt für Schritt diese Liebesgeschichte mit deinem Kaiser, damit es dann ganz natürlich erscheint, wenn du uns erklärst, daß du die Pflicht hattest, ihn zu rächen. Immer vorausgesetzt, daß er wirklich ermordet worden ist, und zwar von dem, den du getötet hast...
Nach diesen Gedanken blickte Niketas zum Fenster hinaus.
»Das Feuer erreicht die Akropolis«, sagte er.
»Ich bringe der Stadt Unglück.«
»Du hältst dich wohl für allmächtig. Das ist eine Sünde des Hochmuts.«
»Nein, eher ein Akt der Selbstkasteiung. Mein ganzes Leben lang ist es mir so ergangen: Kaum hatte ich mich einer Stadt genähert, schon wurde sie zerstört. Ich bin geboren in einer Gegend, die übersät ist mit kleinen Ortschaften und ein paar bescheidenen Burgen, von reisenden Händlern hörte ich die Schönheiten der urbs Mediolani preisen, aber was eine richtige Stadt ist, wußte ich nicht, ich war noch nicht einmal bis Tortona gelangt, dessen Türme ich in der Ferne sah, und Asti oder Pavia wähnte ich an den Grenzen des Irdischen Paradieses.
Aber als ich dann in die Welt hinauszog,
Weitere Kostenlose Bücher